Hallo.
Leider sind Bemühungen in der Ärchäometrie, unter günstigen Umständen Hinweise auf Alter und Herkunft von Metallen zu erhalten (mit z.B. Nuklid-Analysen), leider noch nicht so weit entwickelt, wie man sich das für eine zuverlässige und genügend genaue Datierung wünschen würde. Hier und da lassen sich durch Unterschiede in der Zusammensetzung z.b. Handelswege für Rohstoffe nachvollziehen oder zeitlich gröbere Rückschlüsse ziehen, jedoch bleibt das oft nur vage. Insofern darf man von einer materiellen Bestandsaufnahme des "Schrotthaufens" auch (heute noch) nicht zu viel erwarten. Aber eine spektroskopische Materialanalyse des Mechanismus mittels Röntgencomputertomographie hat 2018 doch ein paar interessante Details zum Vorschein gebracht, die mich ins Grübeln gebracht haben.
Zwar war auch schon bis dahin bekannt, dass es Unvollkommenheiten gab und an einer gebrochenen Speiche des Hauptrades und einem abgebrochenen Zahn offenbar Reparaturversuche gegeben hatte. Auch kann die Geometrie der gleichschenkligen Zähne nur als vergleichsweise rudimentär gelten, wodurch nur ein rauher Lauf möglich ist (wenn mit den vielen Rädern überhaupt), Auf Leonardos Zeichnungen sieht man dagegen, dass zu dessen Zeit die Zähne schon formschlüssiger gestaltet waren. Aber wie man unter dem etwas düsteren Titel "The dark shades of the Antikythera Mechanism" nachfolgend lesen kann, war das offenbar nicht alles:
Röntgen-CT-Analyse des Antikythera-Mechanismus 2018
Die früheren Analysen hatten ergeben, dass Zinnbronze zum Einsatz kam, mit kleinen Beimengungen, wobei die Zahnräder aus einem 1-2mm starken gegossenen Bronzeblech stammten. Bronze gilt eigentlich als korrosions- und relativ verschleißfest, sowie meerwasserbeständig. Die neuere Analyse zeigte jedoch nicht nur, dass die Verwitterung im Seewasser schon sehr weit fortgeschritten war, (was auch Zweifel aufkommen lässt, ob dieser starke "Verwitterungsgrad" schon nach 4- oder 500 Jahren erreicht wird) , sondern auch, dass bestimmte im Röntgenlicht dunklere Partien im Inneren aus einem anderem Metall bzw. einer Legierung bestanden, wobei es sich um Lötverbindungen und etwas Eisen gehandelt haben muß. (In antiker Zeit wurden die beliebten aber kostbaren und seltenen Bronzestatuen aus kleineren Teilen feingegossen, und diese anschließend dann zusammengelötet und/oder die Verbindungsstellen in einer Art "Gießschweißen" teils nachgegossen.) Lage und Form dieser dunklen Elemente zeigte nun, dass der Apparat mehrfach repariert und umgebaut worden sein muß, und man versucht hat, die unzureichenden Lager und Wellen, durch die sich die Zahnräder der Getriebe verschoben, verkanteten oder eierten, später mit verschiedenen Maßnahmen zu stabilisieren.
Dazu wurden vermutlich nachträglich zunächst eine Reihe von (eisenhaltigen) Stiften und Splinten angebracht, (die man bei früherer Kenntnis der späteren Lagerprobleme durch entsprechende Konstruktion von Anfang an in diesem Umfang aber gar nicht benötigt hätte). Um sie an der Mittelplatte im Inneren anzubringen, mußte der Apparat jedoch wieder komplett zerlegt werden. Da aber auch diese(r) Versuch(e) offenbar nicht genügend Stabilität brachte(n), wurden später sichel- bzw. m-förmige Abstandshalter aus einer Legierung eingefügt, und diese vielleicht noch einmal später schließlich festgelötet, um die Taumelbewegungen der Getriebe besser einzudämmen. Außdem scheinen später auch Lagerbleche in "Omegaform" eingelötet worden zu sein, um Lagerabstände zu verbessern. Für die Umbau-Maßnahmen wurden auch verschiedene Lote eingesetzt.
Die Autoren glauben zwar, dass diese Maßnahmen irgendwann zu einem stabilen Ergebnis geführt haben dürften, und nehmen an, dass es viele Vor- und Zwischen-Versuchsgeräte im Experimentalstadium gegeben haben dürfte, bis der Apparat funktionstüchtig war und weitere Exemplare gefertigt werden konnten - aber was sie zu diesen Annahmen bringt, sagen sie nicht. Ich glaube an solchen Stellen wird der Wunsch zum Vater der Gedanken. Ich halte es für wesentlich wahrscheinlicher, dass angesichts des Aufwands dieser ambitionierte Versuch der einzige (oder einer von wenigen) geblieben ist und er irgendwann abgebrochen (bzw für beendet angesehen) wurde. Dann wäre es kein Prototyp für eine spätere Serie, sondern eher eine Art technischer Torso: das zufällig erhaltene Dokument eines avantgardistischen antiken Versuchs, Himmelsbewegungen nicht tabellarisch, sondern mechanisch abzubilden. Ein Versuch, der aber letztlich an den unzreichenden technischen Mitteln seiner Zeit scheiterte. Ein Projekt, das vielleicht lange dauerte und an dem vielleicht auch mehrere beteiligt waren, dessen Ergebnis aber später vermutlich die meiste Zeit wenig beachtet irgendwo in der Ecke stand. Aber auch das ist natürlich nur eine Spekulation.
Wenn man sich bewusst macht, wieviele Weiterentwicklungsversuche auf allen Gebieten anfangs scheitern, bevor am Ende ein gangbarer Weg entdeckt ist - was ja bis in unsere Zeit nicht anders ist ("wir irren uns empor") - und wenn man berücksichtig, wie verhältnismäßig "klein" die Welt damals noch war, dann scheint es mir unwahrscheinlich, dass angesichts des hohen Entwicklungsaufwandes und angesichts des geringen Ansehens, dass die Technik in der Antike hatte, dieser feinmechanische Versuch als Beweis einer damals verbreiteten Hochtechnologie gewertet werden kann. Ich würde den Mechanismus genau umgkehrt sehen: als Dokument, wie man beim übermotivierten Versuch, auszureizen was gerade noch technisch gehen könnte, grandios scheitern kann, weil man die Möglichkeiten überschätzt oder zuviel auf einmal will. Scheitern und Zuviel-Wollen beim Vorangehen ist eigentlich der Normalfall. (Nur wird das gerne verdrängt und unterschlagen). Das hätte überhaupt nichts Ehrenrühriges, finde ich, sondern im Gegenteil, es verdiente immer noch allerhöchsten Respekt.
Wenn man versucht, sich in einer archäologischen Sache ein Bild zu machen, muß man versuchen, so viele Aspekte wie möglich zu berücksichtigen, also auch kultur - und erkenntnisgeschichtliche, sowie soziologische und psychologische Aspekte. Überliefert ist, dass unter den antiken hellenistischen Zeitgenossen extreme soziale Unterschiede bestanden und in der völlig domnierenden kleinen Oberschicht eine Lebensform vorherrschte, die praktischen Tätigkeiten und den Menschen, die damit beschäftigt waren, so gut wie keinen Respekt entgegenbrachte. Derlei profane Dinge und Beschäftigungen wurden verachtet. Dazu hatte man Sklaven und Handwerker, bei denen man das nötige bestellte, und die ohne die komfortablen bürgerlichen Rechte auszukommen hatten, wie sie nur einer kleinen Oberschicht vorbehalten waren. Die Rohstoffgewinnung bei der Arbeit unter Tage muß unter grauenhaften Bedinungen stattgefunden haben. Auch Handwerker waren nicht besonders angesehen und wurden gelegentlich eingepfercht hinter Mauern oder auf Inseln isoliert, mit ihren "schmutzigen" Verrichtungen hatte die edle Gesellschaft nichts zu schaffen.
Das Lebensgefühl und Selbstverständnis der Menschen in dieser Zeit muß auch ganz anders gewesen sein und ohne das Bewusstsein eines "Ichs" ausgekommen sein, d.h. die moderne Individualität, die wir heute empfinden und als selbstverständlich voraussetzen, hat damals offenbar niemand gespürt. Die Bediensteten und Sklaven hätten nicht daran gedacht, sich als weitgehend rechtlose Diener unterdrückt und ausgebeutet zu fühlen, sie hatten an ihr Auskommen zu denken, von Tag zu Tag, und lebten in einer anderen Welt ohne Zukunftspläne. Die dem alltäglichen Gewerbe entrückte Oberschicht, die ihre Sklaven, Handwerker und Bediensteten wie eine Ware nutzte und behandelte, war es jedoch, die mit Aufzeichnungen ihrer eher "platonischen" Interessen ein einseitiges Bild nur ihrer Lebensverhältnisse prägte und überlieferte, das man aber nicht auf die meisten Mitmenschen übertragen darf.
Schriftliche Abhandlungen waren den sozial Hochgestellten vorbehalten, die sich für das handwerkliche und künstlerische Wie nicht interessierten, allenfalls für die Produkte. Sie hätten für eine Technische Dokumentation auch nicht die nötigen Kenntnisse mitgebracht und für diese Vorgänge gar keine Sprache gehabt. Die Handwerker wiederum hatten kein Interesse ihre Fähigkeiten preiszugeben und ihre soziale Lage unnötig zu verschlechtern, und so könnten manche durchgreifenden Erfindungen auch gar nicht registriert geschweige denn aufgezeichnet worden sein. Oder erst zu einem späteren Zeitpunkt und wenn, dann von Leuten, die nichts davon verstanden. Erst recht, wenn sie Dingen galten, die für das tägliche Leben überflüssig waren, keine große Nutzanwendung versprachen, oder doch nicht funktionierten wie erhofft.
Ich war bei den Hinweisen von Marcus, Joachim, Kalle und Matss zur Frage, ob dieser Apparat in der Antike schon hätte gebaut werden können, anfangs sehr skeptisch. Ich denke immer noch, dass der Abstand zu den ansonsten überlieferten Funden beträchtlich ist und irgendwie seltsam. Aber die Kluft scheint mir inzwischen nicht mehr ganz unüberbrückbar. Denn die so gänzlich anderen Lebensverhältnisse in der damaligen Zeit könnten dafür gesorgt haben, dass dieser vermutlich nicht ganz funktionstüchtige Apparat zwar aus der Antike stammt, aber durch seine Entstehung dennoch nicht wirklich repräsentativ ist für die Verhältnisse seiner Zeit, in der ansonsten ein geringeres technisches Niveau realisiert und so verbreitet war, wie es sich späteren Generationen darstellte. Vielleicht war Antikythera also in anderer Hinsicht einzigartig, als gedacht: es könnte auch ein Testlauf gewesen sein, bei dem ein oder mehrere (vielleicht verzweifelte;-) Handwerker womöglich versuchen mußten, um jeden Preis die Gelüste eines hohen Herrn zu erfüllen... (und hoffentlich nicht hinterher dafür ausgepeitscht worden sind)...
Gruß,
Mathias
Video Vortrag von Jo Marchant über Antikythera von 2020
Umfangreiche schriftliche Doku bis etwa 2012
Leichenfunde im Wrack 2016 (von denen man nichts wieder gehört hat)