...und sie bewegt sich doch!

  • Hallo Profis,
    wäre es möglich gewesen, vor unserer wissenschaftlich fortgeschrittenen Zeit,
    das Heliozentrische Weltbild mit einfachen Belegen erklären können?
    Wie hätte man die damaligen Skeptiker aus heutiger Sicht mit den damaligen Mitteln überzeugen können?
    vg Jochen

  • Hallo Jochen,


    nein das geht nicht.


    Alles was bekannt war, lies sich auch durch das Weltbild von
    Ptolemäus -und dann besser- durch das "Kompromiss-Weltbild" von Tycho
    Brahe erklären.



    Dass es nicht geht, kannst Du erst erkennen, wenn Du ganz scharf
    hinschaust, und dann die Mathematik ansetzt.


    Das scharfe Hinschauen -in gigsntischer Form- übernahm Tycho Brahe, und die Auswertung seiner Beobachtungsdaten erfolgte durch Kepler.


    Eine sehr kleine Differenz zwischen den Beobachtungsdaten und der Rechnung, die Kepler trotz jahrelangen Rechnens nicht wegbekam,
    führte dazu, dass ein 2000 Jahre lang gültiges Weltmodell vollständig in sich zusammenbrach.



    Wikipedia:



    Nach Brahes Tod im Oktober 1601 wurde Kepler, der kurz zuvor dessen Assistent geworden war, zu seinem Nachfolger am Hof von Rudolph II. ernannt.
    Damit ging auch ein gewichtiges, noch unvollständiges Werk an Kepler über: die im Auftrag des Kaisers zu erstellenden „Rudolphinischen Tafeln“.
    Sie sollten die „Alfonsinischen“ und die neueren „Prutenischen Tafeln“ ersetzen.


    Kepler erhielt endlich auch die vollständigen Beobachtungsdaten Brahes, insbesondere die des Planeten Mars, den Brahe intensiv und über längere Zeit beobachtet hatte.


    Kepler, endlich im Besitz des unverzichtbaren Beobachtungsschatzes, erkannte, dass die Positionsdaten des Planeten Mars um 8 Bogenminuten (das entspricht etwa 1/4 Vollmonddurchmesser) von der kopernikanischen kreisförmigen Bahn abwichen.


    Diese unscheinbaren 8 Bogenminuten wiesen Kepler den richtigen Weg, die fast 2000 Jahre gültige Auffassung von kreisförmigen Bahnen fallen zu lassen.


    Mit Hilfe der braheschen Beobachtungen konnte Kepler schließlich die elliptische Bahnbewegung des Planeten Mars (später auch der anderen Planeten) nachweisen und sogar die Geschwindigkeit des Planeten genau berechnen.



    MfG
    Larry

  • Hm, danke erstmal.
    Tycho Brahe war seiner Zeit offenbar weit voraus. Als Uhrmacher muss ich erwähnen, daß ihm damals schon relativ genaue, erstmal auch Sekunden anzeigende Uhren zur Verfügung standen (siehe Jost Bürgi und andere bedeutende Uhrmacher)
    Mich wundert nur, warum man so lang an den Epizyklen und dem geozentrischen Weltbild festgehalten hat. Auch Brahes Modell hat ja noch die Erde als Mittelpunkt, auch wenn er der Wegberwiter für Keppler war.
    Spielten auch religiöse bzw. politische Motive eine Rolle- oder war man zu sehr auf die bestehende Sichtweise fixiert?
    Welche Erkenntnisse ergaben sich denn durch Beobachtungen der aufkommenden Fernrohre?

  • Hey Jochen,


    die Epizykel benötigt man ja nur, wenn man die beobachtete Bewegung der Planeten am Himmel ausschließlich mit Kreisbewegungen erklären möchte. Da sich die Planeten nun mal nicht gleichmäßig bewegen, hatte man ja bereits in der Antike (ich glaube es war Apollonius von Perge) die Epizykel eingeführt, die selbst wieder Kreisbewegungen sind. (Übrigens ist die Epizykeltheorie eine mathematische Fourieranalyse der scheinabren Bewegung).


    Des Weiteren besaß die Kreisbewegung (geschlossen und immer wiederkehrend) einen göttlichen Charakter, der gerade von Aristoteles in seiner Arbeit immer wieder unterstrichen wird. Das Ganze war vielen Astronomen damals schon sehr suspekt und man sah das Ptolemäische Weltbild lediglich als ein mathematisches Modell und nicht als eine Beschreibung der Wirklichkeit an (Stichwort: Rettung der Phänomene).


    Selbst Copericus wollte bei seinem Weltbild nicht auf die Epizykel verzichten. Er konnte sich auch noch nicht ganz von der Autorität des Aristoteles lösen und benötigte für genaue Planetentafeln eben diese Epizykel.


    Erst die Keplersche Entdeckung der Ellipsenbahnen (genauer die des Mars) ließ die Epizykel auf den Müllhaufen der Geschichte wandern. In seinem ersten Werk, dem Weltgeheimnis von 1596, stellt er sogar noch die Vermutung auf, dass die Sonne der Sitz einer Kraft auf die Planeten sei. Er traf zwar mit seiner Vermutung einer herumführenden magnetischen Kraft nicht ganz ins Schwarze, hat dennoch über die nach außen abnehmenden Planetengeschwindigkeiten einen ersten Ansatz für ein Kraftgesetz aufgestellt.


    Er ist damit eigentlich nicht nur der Begründer der Himmelsmechanik, sondern der eigentlichen Astrophysik.


    Liebe Grüße und CS,
    Tobi

  • Hallo Jochen,


    wenn du von „vor unserer wissenschaftlich fortgeschrittenen Zeit“ schreibst, ist das ein bisschen ungenau.


    Aber unabhängig davon, von welcher Zeit du genau sprichst, gilt Larrys Antwort: Das geht nicht! Man hätte die Skeptiker nicht überzeugen können.


    Larry hat ja schon deine diffuse Zeitangabe ins späte 16. Jahrhundert versetzt (Tycho Brahe). Ich will noch ein paar andere Beispiele aus der Geschichte geben.


    1.) Antike
    Bereits in der Antike hat Aristarch von Samos (* ca. 310 v. Chr.) das heliozentrische Weltbild als Hypothese diskutiert. Ihm war damals schon klar, dass in diesem Fall eine jährliche Sternparallaxe auftreten muss. Der Nachweis einer Parallaxe wäre schon damals von Aristarchs Zeitgenossen als Experimentum Crucis akzeptiert worden. Eine stichhaltige Messung der Parallaxe und das heliozentrische Weltbild hätte schon damals das geozentrische Weltbild abgelöst. Das ist aber nicht passiert. Wir wissen heute, dass die Parallaxe verschwindend gering ist. Der Nachweis ist erst 1838 gelungen. Aristarchs Zeitgenossen hatten also keinen Grund am geozentrischen Weltbild zu zweifeln. Im Gegenteil: Die nicht gefundene Parallaxe hat das geozentrische Weltbild bestätigt.


    2.) Hochmittelalter
    Für die mittelalterlichen Gelehrten war das heliozentrische Weltbild mittlerweile noch absurder geworden als für Aristarchs Zeitgenossen. Dieses Weltbild widerspricht nämlich jeglichem fest etabliertem Wissen der damaligen Zeit. Vereinfacht gesagt gab es für die Scholastiker des Hochmittelalters zwei Autoritäten: Die Bibel für Glaubensfragen und Aristoteles für die Naturphilosophie. In der Bibel ist alle Schöpfung auf den Menschen ausgerichtet. Die Bedeutung der Bibel für die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes wird aber landläufig überschätzt. Viel wichtiger für diese Frage war die aristotelische Naturphilosophie. Nach Aristoteles hat das Universum eine Kugelgestalt, wobei alles Schwere dem Zentrum des Universums zustrebt. Nun ist wichtig, dass Aristoteles diese Kosmologie mit der Vier-Elemente-Lehre des Empedokles verbunden hat. Die vier Elemente Erde – Wasser – Luft – Feuer sind unterschiedlich schwer bzw. leicht. Gemäß ihrer größten Schwere strebt die Erde dem Zentrum des Universums zu. Gemäß seiner Leichtigkeit steigt das Feuer nach oben (außen). Wasser und Luft ordnen sich dazwischen an. Die vier Elemente bilden also konzentrische Schalen mit der kugelförmigen Erde in der Mitte. (Wenn man im Mittelalter gemäß der aristotelischen Lehre von Erde gesprochen hat, meinte man übrigens wirklich nur die Erde, also ohne Wasser und Luft. Erde im Sinne von „Globus“ inkl. Wasser und Luft ist eine spätere Lesart des beginnenden 16. Jahrhunderts.) Alles was außerhalb dieser vier Sphären liegt, ist nicht aus den vier Elementen zusammengesetzt. Man hat sich die nächsten Sphären als kristallene Schalen vorgestellt, die aus einem fünften Element, der Quintessenz, bestehen. Jeder Planet und auch Mond und Sonne liegen jeweils in ihrer eigenen Sphäre. Am Ende kommt dann die Fixsternsphäre. Dahinter kommen die Engel und Gott.
    Wie kann man sich innerhalb dieses Weltbildes jetzt die Sonne im Zentrum vorstellen? Gar nicht. Die Sonne kann nicht im Zentrum stehen, da sie ja nicht schwer ist.


    Sehr wohl konnte man aber diskutieren, ob sich die Erde um ihre eigene Achse dreht oder ob sich nach etabliertem Wissen der damaligen Zeit die Fixsternsphäre um die Erde dreht. Dies hat beispielsweise Nikolaus von Oresme (14. Jahrhundert) zumindest als Denkmöglichkeit getan. Die Drehung der Erde alleine reicht natürlich nicht, sondern dann würde ja die ganze Erde einmal täglich vom Wasser überschwappt werden. Daher muss sich auch die Wassersphäre mitdrehen. Und auch die Luftsphäre, sonst hätten wir ja ständig starken Wind. All das erscheint aber doch recht unwahrscheinlich, sodass die Theorie der rotierenden Erde von niemandem ernsthaft vertreten wurde. Man hat sich die Wasser- und Luftsphäre viel zu dick vorgestellt. Wenn man sich das alles einmal ganz in Ruhe vor dem eigenen geistigen Auge vorstellt, kommt man zu dem Ergebnis: Die Erde kann eigentlich nur stillstehen.


    3.) Frühe Neuzeit
    Kopernikus hat bekanntlich als erster das heliozentrische Weltmodell quantitativ ausgearbeitet. Qualitativ war es ja schon mit Aristarch vertreten worden. Kopernikus hatte dasselbe Problem wie Aristarch: Die fehlende Parallaxe. Kopernikus hat richtigerweise argumentiert, dass die Entfernung zur Fixsternsphäre einfach zu groß ist, um eine Parallaxe festzustellen. Das konnte man sich damals aber nicht wirklich vorstellen. Das Argument erschien den Zeitgenossen doch als ziemlich schwaches Verzweiflungsargument. Auch zu Kopernikus‘ Zeit galt noch das aristotelische Weltbild. Das kopernikanische Weltbild war dementsprechend nur eine Gehirnübung, eine reine Spekulation. Eine gewisse Akzeptanz erhielt das Modell nur dadurch, dass die Vorhersagen nach Kopernikus etwas genauer waren als die der geozentrisch basierten früheren Tabellen. Dies lag aber eher an den besseren Beobachtungsdaten als am besseren Modell.


    Nun zu deiner Frage: War man zu sehr auf die bestehende Sichtweise fixiert?
    Ja, man war auf die bestehende Sichtweise fixiert. Aber Naturwissenschaft funktioniert anders als so mancher glaubt.


    1.) Die Naturwissenschaft bildet ein ganzes System verschiedener Theorien, die alle miteinander in komplexer Weise verknüpft sind. Heliozentrisch oder geozentrisch: Das ist keine isolierte Frage, die sich unabhängig von anderen Theorien behandeln lässt. Vor Aufgabe der gesamten aristotelischen Physik war der Weg für das heliozentrische Weltbild nicht frei. Der endgültige Durchbruch kam sogar erst mit Newtons neuer Physik.


    2.) Das, was wir heute Naturwissenschaft nennen, wurde erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts erfunden. Das Denken davor war ganz anders gestrickt. So waren die Gelehrten im Mittelalter Theologen mit erstaunlich großem Interesse an Naturphilosophie und Astronomie. Aber sie waren eben keine Naturwissenschaftler.


    Zum Schluss vielleicht nochmal ein Kommentar zu deinem Wort „Skeptiker“. Jemand der bis zum Ende des 16. Jahrhunderts das geozentrische Weltbild vertreten hat, war kein Skeptiker. Das heliozentrische Weltbild war eine Außenseiteransicht, die sich im Nachhinein merkwürdigerweise als richtig herausgestellt hat.


    Gruß,
    Wolfgang

  • Hallo Tobi,


    die große Bedeutung, die wir Kepler heute zu Recht beimessen, hat er bei seinen Zeitgenossen nicht erlangt. Selbst Galilei hat Keplers Ergebnisse, obwohl sie ihm bekannt waren, in seiner Argumentation für das heliozentrische Weltbild weitgehend ignoriert. Das geozentrische Theoriegebäude hat über sehr sehr lange Zeit gebröckelt bis es endgültig in sich zusammengestürzt ist.


    Interessant ist hier, dass noch bis weit ins 17. Jahrhundert hinein der Astronomie-Klassiker des Mittelalters schlechthin, Sacroboscos Tractatus de Sphaera von 1230 an den Universitäten als verbindliches Elementarlehrbuch verwendet wurde.


    Gruß,
    Wolfgang

  • Hey Wolfgang,


    vielleicht liegt die Ursache für die geringe Bedeutung auch in den Umständen, unter denen Kepler gearbeitet hat?!


    Galileis Arbeit und Leben hat etwas heroisches mit der Inquisition (und sie bewegt sich doch) und dem Hausarrest, unter dem er sein größtes Werk schrieb. Kepler hingegen hat als Lutheraner am (kath.) Kaiserhof unter drei verschiedenen Kaisern gearbeitet und genoß in den wilden Zeiten der Gegenreformation eigentlich immer eine Sonderrolle, die sicher von seinen Zeitgenossen argwöhnisch betrachtet wurde. Er musste dafür zwar souveräne Arbeiten leisten, erhielt jedoch im Gegenzug keine angemessene Bezahlung. Man hatte in jenen Zeiten der verblendeten religiösen Konflikte (Kepler erlebte 12 Jahre des 30jährigen Krieges) einfach etwas "besseres" zu tun.


    Zudem ist nicht bekannt, wo Kepler begraben ist. Die letzten Ruhestätten von Galilei, Newton oder Copernicus kann man besichtigen und so ein Andenken hochhalten, Keplers Gebeine hingegen liegen irgendwo in Regensburg verstreut unter der Erde.


    "Seid guten Mutes, Galilei, und tretet hervor." Kepler 1597 in einem Brief an Galilei, der dann sich dann aber erstmal doch nicht so sehr getraut hat.


    Liebe Grüße,
    Tobi

  • Hallo Tobi,


    ja, das sehe ich auch so. Die Umstände, unter denen Kepler gearbeitet hat, waren alles andere als leicht. Zudem war er von seiner Persönlichkeitsstruktur her ganz anders als Galilei. Galilei war karrierebewusst, strebsam, arrogant. Vielleicht wäre er mit anderer Persönlichkeitsstruktur nie verurteilt worden? Wer weiß?


    Jochen:
    Zu deiner Frage: Welche Erkenntnisse ergaben sich denn durch Beobachtungen der aufkommenden Fernrohre?


    Die Fernrohr-Beobachtungen haben zu einem ganz wesentlichen Teil zur Demontage des geozentrischen Weltbildes beigetragen. Allerdings manchmal nur auf indirekte Art und Weise. Beispiele:


    1.) Mond: Der Mond besitzt offensichtlich Krater und Gebirge. Er scheint also genau wie die Erde aus Gestein zu bestehen. Das passt aber nicht zu Aristoteles' System, wonach das Element Erde da oben nichts verloren hat.


    2.) Venusphasen: Die Venus zeigt ähnliche Phasen wie der Mond - inkl. "Vollvenus". Wenn aber die Venussphäre unterhalb der Sonnensphäre ist, dürfte dies nicht der Fall sein. Die Venus dürfte nie voll beleuchtet sein. Das System von Tycho Brahe erklärt das so, dass sich zwar die Venus um die Sonne dreht, diese sich aber wieder um die Erde.


    3.) Jupitermonde: Die Jupitermonde drehen sich um den Jupiter. Das beweist zumindest, dass die Erde nicht das einzige Zentralgestirn ist.


    Andere Beobachtungen, ohne Fernrohr, trugen außerdem zur Demontage der aristotelischen Physik bei:


    4.) Kometen waren keine atmosphärischen Erscheinungen. Sie schienen die vermeintlich undurchdringlichen kristallenen Sphären zu durchdringen.


    5.) Es wurden mehrere Novae beobachtet, die offensichtlich innerhalb der Fixsternsphäre stattfanden. Die ewig unveränderliche Sphäre unterlag also doch sichtbaren Veränderungen.


    Ganz wesentlich war aber: Am Anfang des 17. Jahrhunderts wurde ein Mechanismus in Gang geworfen, der bis heute ungebremst weiterläuft: Dieser Mechanismus wird in Gang gehalten durch die positive Rückkopplung zwischen Mathematik, Experiment, philosophischer Reflexion, Handwerk, Technik und Kapitalismus. (Hab ich noch irgendwas vergessen?)


    "Die Wissenschaft sucht nach einem Perpetuum mobile. Sie hat es gefunden: sie ist es selbst." (Victor Hugo)


    Gruß,
    Wolfgang

  • Erstmal Vielen Dank Larry, Tobi und Wolfgang!
    Die geschichtlichen Hintergründe sind wirklich sehr spannend. Wie weit waren diese großen Geister ihrer Zeit voraus!

  • Hallo Jochen,


    um vielleicht noch einmal kurz auf deine Ausgangsfrage zurückzukommen.


    Wolfgang erwähnt Aristarch von Samos und seine Ideen. Er ist vielleicht das beste Beispiel. Da ihm die praktischen Beweise fehlten konnte er sich nicht mit seiner heliozentrischen Idee durchsetzen und wird deshalb lediglich so nebenher von Archimedes in einem anderen Zusammenhang erwähnt.


    Letztendlich wollte man ihn sogar wegen seiner Gottlosigkeit zu bestrafen.


    LG, Tobi

  • Hallo Jochen,


    ich habe mir gerade nochmal deine Fragen durchgelesen und habe - vielleicht auch irrtümlich, dann korrigiere mich - unterschwellig die Ansicht herausgelesen:


    geozentrisch: rückständige Kirche - Inquisition - böse


    heliozentrisch: fortschrittliche Wissenschaft - Opfer der Kirche - gut


    Das wird so immer gerne erzählt. Aber vom häufigen Erzählen wird's nicht wahrer. Die Frage "geozentrisch oder heliozentrisch?" hat zweifellos auch eine religiöse Dimension. Sie lässt sich aber nicht auf eine einfache Formel bringen. Meines Wissens wurde dieses historische Zerrbild durch Verfasser naturwissenschaftlicher und vor allem populärwissenschaftlicher Bücher im 19. Jahrhundert geprägt. Das ist besonders schlimm, da jeder Wissenschaftler nicht nur auf seinem eigenen Fachgebiet methodisch vorgehen sollte, sondern auch dann wenn es sich um Nachbargebiete handelt. Und die Geschichtswissenschaft ist eben auch eine Wissenschaft.


    Gruß,
    Wolfgang

  • Auch bei den großen / bedeutenden Uhrmachern wird sehr viel verzerrt, verfälscht, oder ist einfach einfach verschütt gegangen (z.B. Peter Henlein)
    Was mich stutzig macht ist wie oft man nah dran war, aber der Fehler im Detail steckte, z.B. Parallaxe oder Venus-'vollmond"

  • Hallo,


    ich frage mich, wie man früher mit dem geozentrischem Weltbild die Oppositionsschleifen der äußeren Planeten zu erklären versuchte? Gerade die des Mars ist sehr ausgeprägt, da brauchts kein Teleskop für, das muss doch schon den aufmerksamen Beobachtern in der Antike aufgefallen sein. Die einzige logische Erklärung für diese Erscheinung kann doch nur darin zu finden sein, dass sich die Erde zusammen mit den anderen Planeten um etwas bewegt.


    Gruß, Gerry

  • Hallo Gerry!
    mit der Epizykelberechnungstheorie konnte man schon (allerdings viel umständlicher), die Bahnabweichungen erklären. Die Keplersche Ellipsenrechnung und Theorie vereinfachte dies natürlich.
    Gruß Armin

  • Hallo Gerry,


    mit der Epizykeltheorie, aufbauend auf dem Aristotelischem Dogma der gleichförmigen Kreisbewegung, hätte man eigentlich ein starkes Werkzeug zur Erklärung der Oppositionsschleifen im geozentrischen System. Oft reichten die einfachen Epizykel nicht mehr aus und man musste weitere in das Modell einfügen ("Epizykel auf Epizykel").


    Dies führte dazu, dass die Astronomie in der Antike den Ruf verlor, die tatsächliche Bewegung zu beschreiben. Sie taugte nur noch zur mathematischen Hypothesenbildung.


    Viel interessanter als die Bewegungen der äußeren Planeten sind die von Merkur und Venus im geozentrischen Weltbild. Dort waren sich die Naturphilosophen noch nicht mal über die Reihenfolge in der Anordnung der beiden Planeten einig! Verlaufen sie denn nun ober- oder unterhalb der Sonne [:I]


    Liebe Grüße und cs,
    Tobi

  • Hallo Gerry,


    <blockquote id="quote"><font size="1" face="Verdana, Arial, Helvetica" id="quote">Zitat:<hr height="1" noshade id="quote"><i>Original erstellt von: Gerry</i>
    <br />


    Die einzige logische Erklärung für diese Erscheinung kann doch nur darin zu finden sein, dass sich die Erde zusammen mit den anderen Planeten um etwas bewegt.


    <hr height="1" noshade id="quote"></blockquote id="quote"></font id="quote">


    Dass diese Erklärung das Phänomen der Oppositionsschleifen locker erklärt, war auch schon Ptolemäus bewusst. (Ich werde morgen mal nach einer entsprechenden Textstelle im Almagest suchen.) Selbst den mittelalterlichen Gelehrten war das klar. Die Kenntnisse der mittelalterlichen Gelehrten werden heute häufig extrem unterschätzt. Und obwohl - oder vielleicht sogar weil - die Kenntnisse weit höher waren als heute meist gedacht, wurde das heliozentrische System als nicht akzeptabel verworfen.


    2 wesentliche Dinge müssen hier bedacht werden:


    - Die Naturwissenschaft, die gewissermaßen die Synthese aus Naturphilosophie und mathematischem Modell bildet, war damals noch nicht "erfunden". Die Wahrheit wurde in Philosophie und Theologie gesucht. Mathematik (und hierzu gehörten auch die Methoden des ptolemäischen Systems) hatte nur beschreibenden aber keinen erklärenden Charakter. Deshalb wurde in Kopernikus' "De revolutionibus orbium coelestium" nachträglich noch der Hinweis eingefügt, dass das Modell nicht die Wirklichkeit darstelle, sondern nur reine Hypothese sei.


    - Die extreme Bedeutung der aristotelischen Philosophie kann kaum überschätzt werden. Daran, dass in der Mitte des Weltalls notwendigerweise nur das Schwere, also die Erde, befinden kann, wurde von niemandem ernsthaft bezweifelt. (Ich habe das ja bereits in einem früheren Beitrag beschrieben.) Aristoteles: Das war viel mehr als nur irgendeine philosophische Schule. Jedes Phänomen, das sich in der Natur beobachten ließ, konnte gemäß Aristoteles' Philosophie erklärt werden. Mehr noch: Auch Fragen der Theologie (z.B. die Unsterblichkeit der Seele) wurden auf Basis von Aristoteles' Philosophie diskutiert. Die ganze universitäre Bildung basierte darauf. Alles bildete ein harmonisches Ganzes ohne erkennbare Widersprüche. Das konnte man nicht aufgeben, ohne komplett den Boden unter den Füßen zu verlieren.



    Gruß,
    Wolfgang

  • So, Danke erstmal für die vielen Beiträge.
    Es ist einfach schwer vorstellbar, daß nicht ein sich bewegendes Objekt ( Sonne ) feststeht, sondern die Erde sich dreht. Also genau das Fegenteil dessen, was man täglich beobachtet.
    Aber hätte man am Polarstern ( zumindest auf der Nordhalbkugel) nicht darauf schließen können, daß es sich um die verlängerte Achse der bewegten Erde handelt? vg Ji

  • Hallo Jochen!


    Der Effekt der Drehung um den Polarstern lässt sich entweder durch die Drehung der Erde oder durch die Drehung der gesamten Fixsternsphäre erklären. Das haben schon Aristarch von Samos in der Antike und Nikolaus von Oresme im Mittelalter so beschrieben. Jeder klar denkende Mensch hatte das auch damals schon verstanden.


    Die Frage war aber:
    Welche der beiden Möglichkeiten entspricht der Realität? Was dreht sich tatsächlich?


    Ein Gelehrter des Spätmittelalters würde dich fragen:
    Warum soll sich die Erde drehen, wenn es umgekehrt viel widerspruchsloser zu erklären ist, dass sich die Fixsternsphäre dreht?


    Gruß,
    Wolfgang

  • Hallo Jochen,


    deine zitierte Frage:


    <blockquote id="quote"><font size="1" face="Verdana, Arial, Helvetica" id="quote">Zitat:<hr height="1" noshade id="quote">Spielten auch religiöse bzw. politische Motive eine Rolle- oder war man zu sehr auf die bestehende Sichtweise fixiert?<hr height="1" noshade id="quote"></blockquote id="quote"></font id="quote">


    hatten wir a.a.O. hier schon mal diskutiert. (War tatsächlich schon 10 Jahre her.) Guckst du hier:


    http://www.astrotreff.de/topic…true&TOPIC_ID=18751#95814


    Ich hoffe, dass es erhellend für dich ist.


    CS.


    Hubertus

  • Naja,
    religiöse Gründe wurden auch in der katholischen Kirche in der Renaissance in unterschiedlichem Maße angelegt. Kopernikus hatte mit seiner heliozentrischen Theorie "De revolutionibus orbitum coelestium" durchaus Rückendeckung der Kirche. Seine wissenschaftliche Arbeit trug maßgeblich zur Datumsreform des Gregorianischen Kalender 1582 bei. Ein paar Jahre später nahm die katholische Kirche Galilei dann an die kurze Leine.


    Interessant ist, dass die orthodoxe Kirche die Datumsreform bis heute nicht nachvollzogen hat. Selbst als einige orhtodoxe Kirchen auf den sog. meletianischen Kalender umgestellt haben, der noch genauer als der Gregorianische Kalender ist, wechselten einige "aus Solidarität mit der russ. orth. Kirche" wieder auf den Julianischen Kalender. Das zeigt, dass Machthaber sich immer schon beliebig auch der religiösen Begründung bedient haben, wenn es ihnen in den Kram passte.


    Nach der gleichen Logik führte Chavez am 9.12.2007 in Venezuela eine eigene Zeitzone ein: UTC - 4h 30mm, um nur keine gemeinsame Zeitzone mit den USA zu haben.


    Gruß


    PS:
    hmm, warum denke ich jetzt an das Glühlampenverbot?

  • Hm, interessant, wie grundlegend sich das heliozentrische Bild auf die gesamte Entwicklung der Menscheit ausgewirkt hat, ein Quantensprung. Interessant ist auch, daß erst durch technischen Fortschritt, wie z.B. Teleskope, Uhren, etc. diese Entdeckungen erst möglich wurden. Vielleicht steht uns heute dank Computertechnik wieder so ein Entwicklungssprung bevor?


    Wie hat man denn die Jahreszeiten "geozentrisch" erklärt?


    vg , Jo

  • Hallo Hubertus,


    gerade hab ich den 10 Jahre alten Thread gelesen. Was mir besonders an deinem Beitrag gefallen hat, ist der ganzheitliche Ansatz. Ich interessiere mich vor allem für die Geburt der Naturwissenschaften. Was für historisch spätere Zeiten noch einigermaßen klappt - nämlich isoliert durch die Brille der Astronomie zu blicken - funktioniert für die frühe Neuzeit gar nicht. Hier vermischt sich alles: Wissenschaft, Philosophie, Kultur, Esoterik u.s.w.


    Was hat uns Kopernikus aus heutiger Sicht gebracht? Hierzu wurden in dem 10 Jahre alten Thread Antworten gegeben. Interessant ist, dass die wissenschaftliche Revolution in der Mitte des 17. Jahrhunderts beinahe zum Erliegen gekommen wäre. Was hätte Kopernikus uns dann gebracht? Wahrscheinlich nichts von bleibender Bedeutung. Dann hätten wir trotz Kopernikus und Kepler wahrscheinlich heute noch das geozentrische Weltbild. (Und keine Autos, keinen Strom, keine Kunststoffe, noch nicht einmal Dampfmaschinen) Nur die erfolgreiche wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts konnte den Arbeiten von Kopernikus und Kepler zu einer langfristigen Würdigung verhelfen.


    Gruß,
    Wolfgang

  • Hallo Jochen,


    ich sehe nicht unbedingt, dass das heliozentrische Weltbild ein Quantensprung für die weitere Entwicklung war. Zumindest nicht in dem Sinn, dass sozusagen schon die kritische Masse erreicht wurde, um der wissenschaftlichen Revolution zum Durchbruch zu verhelfen. Wenn man unter dem Quantensprung versteht, dass damit die Revolution initiiert wurde, dann ja! Aber wie auch bei politischen Revolutionen gilt: Nicht jede Revolution hält sich am Leben. Manches wird im Keim erstickt oder hält sich nur kurze Zeit. Die wissenschaftliche Revolution wäre beinahe nach 50 Jahren zum Erliegen gekommen. Die kritische Masse wurde erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts überschritten. Seitdem läuft das Perpetuum Mobile.


    Gruß,
    Wolfgang

  • Wolfgang,
    <blockquote id="quote"><font size="1" face="Verdana, Arial, Helvetica" id="quote">Zitat:<hr height="1" noshade id="quote">Interessant ist, dass die wissenschaftliche Revolution in der Mitte des 17. Jahrhunderts beinahe zum Erliegen gekommen wäre.<hr height="1" noshade id="quote"></blockquote id="quote"></font id="quote">
    hmm, ich behaupte mal das Gegenteil war der Fall, die katholische Kirche verlor speziell in Deutschland massiv an Einfluss durch den 30-jährigen Krieg.
    Nimm Personen wie Pascal, Descartes, Huygens, Fermat, Mersenne, Hooke und viele andere, die genau in der Zeit lebten. Die Naturwissenschaften und die Philosophie nahmen da erst richtig Tempo auf.


    Ich vermute mal, dass durch Pest, Krieg, Reformation einerseits und Kolonisierung andererseits der Nährboden gelegt wurde, der aus dem feudalen Mittelalter, der anschließenden Renaissance und ihren humanistischen Ideen erst in die Neuzeit führte. Althergebrachte gesellschaftliche Ansichten wurden zunehmend in Frage gestellt. Speziell über den Kolonienhandel entwickelte sich eine bürgerliche Klasse, die in Konkurrenz zum Adel/Kirchenadel Kunst und Wissenschaft fördern konnte. Speziell in Deutschland wurden evangelisch lutherische Fürstentümer mit eigenen Universitätsgründungen aktiv, allerdings zeitlich im Nachgang zur großen Welle an Universitätsgründungen in der Renaissance.


    In die Zeit fallen auch berühmte Gründungen von Wissenschaftsakademien wie die Académie de Sciences (Paris, 1666) oder die Royal Society (London 1660).


    Gruß

  • Hallo Kalle,


    die Krise der Wissenschaft, die ich meinte war noch vor der Zeit, die du beschreibst. Ich meinte die 1640er Jahre.


    Ich möchte hier betonen, dass es sich nicht um meine eigene amateurhafte Beurteilung handeln, sondern um ein Ergebnis der historischen Forschung. Google einfach mal nach "Floris Cohen". Das ist ein niederländischer Wissenschaftshistoriker, der sich sehr intensiv mit der sogenannten "Needham Question" beschäftigt hat. Das ist die Frage: Warum fand die wissenschaftliche Revolution gerade in Europa zur frühen Neuzeit statt und nicht schon früher oder woanders (hellenistisches Griechenland oder Islam oder China oder Indien)?


    Cohen behandelt in der Nachfolge einer langen Reihe von Wissenschaftshistorikern und Soziologen genau das, was du in deinem Beitrag anschneidest: Die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und der Entwicklung der Wissenschaft. Das Thema ist außerordentlich komplex und bis heute nicht umfassend erforscht. Von Cohen gibt es auch ein bibliographisches Buch, das einen Überblick über den Stand der Forschung gibt.


    Inwiefern der Durchhänger der 1640er Jahre die wissenschaftliche Revolution ernsthaft gefährdet hat, ist natürlich schwer zu beurteilen. Man wird hier keine sichere Antwort finden.


    Sehr spannend ist auch der Teil der Needham-Frage, die sich mit der hellenistischen Zeit beschäftigt. Warum gab's es im hellenistischen Griechenland keine wissenschaftliche Revolution? Dies ist besonders schwer zu erforschen, da fast alles an Büchern verschwunden ist, was damals existiert hat. Lucio Russo, eine italienischer Historiker, beantwortet die Frage so, dass die aufkeimende Naturwissenschaft lediglich durch die römische Eroberung im Keim erstickt wurde. Die Römer haben uns sozusagen 1700 Jahre Entwicklungsgeschichte geklaut. Nach dieser Theorie wären wir unter Umständen heute schon auf dem Entwicklungsstand, den wir tatsächlich erst im Jahr 3700 erreichen werden. Das ist natürlich kontrafaktische Spekulation, wirft aber trotzdem ein wenig Licht auf die historische Beurteilung unserer heutigen Lebenssituation.


    Gruß,
    Wolfgang

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!