Beiträge von Atlas im Thema „Interview mit dem USA Kosmologen Sean Carroll“

    Hallo Thomas,


    soweit ich weiß, hat Everett selbst im Jahr 1957 seine Idee nicht explizit auf eine Vielweltenlehre hin entwickelt. Er hat überhaupt auch nur recht kurz in der Quantenphysik gearbeitet. Nach Abschluß der Dissertation wandte er sich anderen mathematischen Problemen zu und wurde mit deren Lösung reich. Erst in den 1970er Jahren haben sein Lehrer John A. Wheeler, der in jungen Jahren Mitarbeiter Einsteins gewesen war, und dessen Promovend Bryce DeWitt die Everett-Interpretation ausdrücklich als Multiversumstheorie formuliert. Das galt zunächst eher als Kuriosität, die vor allem als Basis für Science-Fiction Romane und Filme taugte.


    Das änderte sich aber in den 1990er Jahren, als die sogenannte Dekohärenz-Theorie entwickelt war und in die Vielweltenlehre intergriert werden konnte. Damit wurde es möglich, aus der Quantentheorie selbst heraus zu erklären, warum wir keine makroskopischen Überlagerungszustände sehen – d.h. warum für uns alle Katzen entweder tot oder lebendig sind, aber nicht beides zugleich. Dagegen muß die Standardquantenmechanik ja an dieser Stelle immer den Beobachtungsprozess heranziehen, der sich aus der Quantentheorie selbst gar nicht ergibt. Daraus entstehen dann so merkwürdige Behauptungen wie, daß die Katze dadurch lebendig oder tot wird, daß jemand sie anschaut. Für mein Empfinden ist das auch nicht glaubwürdiger als das Multiversum.


    Jedenfalls erfuhr die Vielweltenlehre durch die Verbindung mit der Dekohärenztheorie eine solche Stärkung, daß sie physikalisch salonfähig und in der physikalischen Avantgarde unserer Tage fast schon Standard wurde. – Aber vermutlich hast Du Recht und der Preis, den uns die Multiversumstheorie abverlangt, ist trotz allem einfach zu hoch. Veilleicht ist das alles nur ein theoretischer Hokuspokus.


    Die Diskussion ist sicher irgendwie „akademisch“, insofern es sich um ein Grundlagenproblem handelt, das unmittelbar keine praktische Relevanz hat. Aber wenn man verstehen will, was die moderne Physik uns über die Beschaffenheit der Wirklichkeit sagt, muß man sich meines Erachtens mit solchen Dingen doch auseinandersetzen.


    Ich glaube übrigens, daß es noch einen weiteren, eher weltanschaulichen Grund dafür gibt, daß die Vielweltenlehre bei Autoren wie Carroll solchen Zuspruch findet. Das hat zu tun mit dem Phänomen der Feinabstimmung der Naturkonstanten. Das Universum ist „fine-tuned for life“, wie man sagt, und kann daher eigentlich kein Zufallsprodukt sein, weil ein zufällig entstandenes Fine-tuning geradezu absurd unwahrscheinlich wäre. Das Fine-tuning ist eines der stärksten Argumente für die gegenwärtigen Vertreter der traditionellen Lehre, daß das Universum durch die planvolle Tätigkeit eines intelligenten Schöpfers hervorgebracht worden sein muß. Carroll und andere sehen nun in der Vielweltenlehre ein geeignetes Instrument, um dieses Argument zu entkräften. Denn wenn sowieso alle möglichen Universen auch wirklich sind, braucht man keine weitere Erklärung mehr dafür, daß ein so fein getuntes Universum wie das unsere existiert.


    Viele Grüße
    Johannes

    Hallo Emil,
    ja, Leibniz hatte viele interessante Ideen, und er hat einige Ideen der modernen Physik vorweggenommen. Insbesondere die Vorstellung, daß die Dinge nicht von Raum und Zeit abhängen, sondern umgekehrt Raum und Zeit (als Ordnungsstruktur) von den Dingen. Meiner Meinung nach gehen Carroll und andere aber noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur behaupten, daß Raum und Zeit von den Dingen abhängig sind, sondern daß die Dinge ursprünglich zeitlos ist.


    Hallo Thomas,
    ich finde die Vielweltentheorie auch schwer verdaulich. Andererseits: Die Physiker erklären uns ja ständig, daß die Wirklichkeit gar nicht so ist, wie wir meinen. (Carlo Rovelli sagt es schon im Titel seines Buches: „Reality is not what it seems“.) Irgendeine vermeintliche Selbstverständlichkeit müssen wir wohl preisgeben, und die Vielweltenleute meinen eben, dies sei die Meinung, es gebe nur eine einzige Welt. Das ist sozusagen das Opfer, das wir bringen müssen. Was bekommen wir dafür? Eine Theorie, die es uns erlaubt, an einem deterministischen Verständnis der Natur festzuhalten. Alle anderen Optionen, insbesondere der indeterministische Kollaps der Wellenfunktion, halten sie für noch schlimmer, weil das dadurch geforderte Opfer noch größer wäre.


    Danke für den Link zu Hossenfelders Video. Ihr Einwand gegen die Vielweltentheorie leuchtet mir allerdings nicht wirklich ein. Vielleicht habe ich ihn auch wegen der Kürze ihrer Darstellung bloß nicht richtig verstanden.
    Eine Verstehenshilfe bietet aber gerade das Buch von Carroll. Es geht ja um die Frage, ob die Vielweltenlehre die Wahrscheinlichkeitsverteilung von Beobachtungsresultaten angemessen interpretieren kann. Die Vielweltenlehre behauptet einen Determinismus, und welche Rolle kann Wahrscheinlichkeit dabei spielen? In diesem Rahmen kann man Wahrscheinlichkeit jedenfalls nicht im Sinne relativer Häufigkeit interpretieren, wie man das im Rahmen der Kopenhagener Deutung tut (Bornsche Regel). Stattdessen deutet man sie als subjektive Unwissenheit des Beobachters und zieht dann die Entscheidungstheorie heran (Bayessches Theorem) und insbesondere „rational choice“ Argumente, wie Hossenfelder am Ende des Videos auch erwähnt. Was es damit auf sich hat, erklärt Carroll sehr schön in Kapitel 7 seines Buches, wo er die gegenwärtige Diskussion um den Wahrscheinlichkeitsbegriff der Vielweltenlehre sehr erhellend und verständlich zusammenfaßt.


    (Zu Hossenfelders Einwand: Dass die „rational choice“ Deutung die gleiche Wahrscheinlichkeitsverteilung generiert wie die Bornsche Regel, ist doch gerade eine Stärke der Vielweltendeutung, keine Schwäche. Oder will Hossenfelder sagen, daß durch die „rational choice“ Situation eine zweite Dynamik zusätzlich zur Dynamik der Wellenfunktion angesetzt wird, was ja gerade die Schwäche der Wellenfunktionskollapsdeutung ist? Das würde in der Tat dem Grundprinzip der Vielweltendeutung widersprechen, demzufolge die Welt nichts anderes ist Wellenfunktion und restlos in ihr aufgeht. Aber wieso wäre „rational choice“ eine solche zweiten Dynamik, da es doch nur um subjektive Unwissenheit geht?)


    Viele Grüße
    Johannes

    In dem Interview, auf das ich wegen der paywall auch nicht zugreifen kann, geht es offenbar um Carrolls neues Buch: "Something deeply hidden. Quantum Worlds and the Emergence of Spacetime".


    Das Buch hat drei Teile.
    Im ersten Teil erklärt Carroll die Grundlagen der Quantenmechanik.
    Im zweiten Teil legt er die Vielwelten-Interpretation nach Everett dar, die er (wie heute fast jeder Physiker, der populärwissenschaftliche Bücher schreibt) für die beste Deutung hält.
    Im dritten Teil versucht er, die Vielwelten-Interpretation für die Theorie der Quantengravitation nutzbar zu machen. Über die Gedankenkette: "Wellenfunktion - Verschränkung - Verschränkungsentropie - Geometrie - Raum", gelangt er zu der These, daß der Raum nichts physikalisch Fundamentales, sondern bloß eine emergente Eigenschaft der Wellenfunktion des Universums sei. Für die Zeit möchte er ähnliches sagen, kann dort aber, wie er zugibt, erst wenige Andeutungen machen. Dabei wäre der Nachweis, daß die Zeit ebenfalls nicht physikalisch Fundamentales, sondern bloß etwas Emergentes ist, für Carroll eigentlich besonders wichtig. Denn Carroll will - ebenso wie Hawking - den Big Bang vermeiden. Das ist wiederum naturphilosophisch relevant, weil der Big Bang den Gedanken eines Schöpfers des Universums nahe legt. Den Schöpfungsgedanken will Carroll aber aus der Physik vertreiben. (Es gibt auch ein Diskussionsbuch von Carroll und William Lane Craig um diese Frage. Das ist sozusagen der Nachfolger zu dem älteren Diskussionsbuch von William Lane Craig und Quentin Smith).


    Das Buch dient letztlich dazu, dem breiteren Publikum Carrolls eigene, aber noch unfertige Theorie der Quantengravitation vorzustellen. Sie unterscheidet sich von anderen Ansätzen vor allem dadurch, daß sie der Entropie eine Schlüsselstellung zuerkennt.


    Ich finde, daß das Buch recht gut geschrieben ist. Carroll versteht es, die Grundgedanken der Quantenmechanik, der Quantenfeldtheorie und der Quantengravitation auch für ein Laienpublikum durchsichtig und verständlich zu machen, indem er sich nicht in mathematischen und technischen Details verliert, sondern immer wieder auf die entscheidenden Punkte hinweist.


    Viele Grüße
    Johannes