Beiträge von Atlas im Thema „Dunkle Materie und Energie obsolet?“

    Hallo Thomas,


    besten Dank für den Hinweis auf dieses interessante Thema. Um ein vollständiges Bild zu bekommen, sollte man zu dem Paper, das der andere Thomas verlinkt hat, noch dieses https://arxiv.org/abs/1701.03964 hinzu nehmen. Es ist vom gleichen Autor: Andre Maeder.


    Maeders Projekt ist im Kern nicht ganz neu, sondern geht auf ältere Beiträge zurück, vor allem auf den von V. Canuto („Scale-covariant theory of gravitation and astrophysical application“ von 1977), auf den Maeder auch selbst verweist. Eigentlich reicht es sogar über Paul Dirac zurück bis auf Hermann Weyl und dessen Symmetrieüberlegungen. Die Hauptfrage ist von sehr grundsätzlicher Art: Ist die physikalische Realität skalensymmetrisch? Bekanntlich liebt die Natur Symmetrien. Hermann Weyl hat deshalb postuliert, daß die Naturgesetze im Kleinen genau so wie im Großen gelten müßten. Skalierung dürfte also keinen Unterschied machen, d.h. die Natur müßte skalensymmetrisch sein. Nach dem, was wir bisher wissen, scheint sie es aber gerade nicht zu sein. Denn immer wenn dimensionsbehaftete Parameter ins Spiel kommen, ist die Skalensymmetrie aufgehoben, sofern diese Parameter fundamentale Konstanten darstellen, die sich nicht mit skalieren. Am kurzen, quantenmechanischen Ende ist dies so bei der Masse des Higgs-Bosons, und am langen, kosmologischen Ende bei der Newtonschen bzw. Einsteinschen Gravitationskonstante.


    Maeder arbeitet am langen Ende. Er geht aus von der Hypothese, daß der leere Raum auf großen Maßstäben skaleninvariant ist, weil es nichts gibt, das eine bestimmte Skala definieren könnte. Canuto hat schon gezeigt, wie man die Einsteinsche Gravitationstheorie skaleninvariant umformulieren kann (Cotensor Analysis), so daß sich Ausdrücke für die kosmologischen Feldgleichungen wie auch für die relativistischen Bewegungsgleichungen (= Geodätengleichungen) aufstellen lassen, die keine Konstante mehr enthalten, sondern eine variable Skalenfunktion in den Mittelpunkt rücken. Die vermeintliche Gravitationskonstante ergibt sich aus dieser Skalenfunktion und ändert sich zeitlich mit ihr. Sie ist also nicht konstant, sondern skaliert sich mit.


    Wenn man nun die Feldgleichungen skaleninvariant formuliert, ergibt sich nach Canuto und Maeder ganz von selbst ein Beschleunigungsterm, der der Gravitation entgegen gerichtet ist. Er ist zeitlich veränderlich, entspricht jetzt aber von der Größe her etwa dem gemessenen Wert der sogenannten kosmologischen Konstante. Um die Expansion des Kosmos zu erklären, braucht man demnach keine dunkle Energie zu veranschlagen, von der man nicht weiß, woher sie kommt, und die mysteriöserweise auch noch ständig nachgefüllt werden muß, da ihre Energiedichte bei der Expansion ja die gleiche bleibt. Vielmehr resultiert die Expansion einfach aus der Skaleninvarianz des leeren Raumes. Wie Canuto und Maeder zeigen, paßt die skaleninvariante Kosmologie sehr gut zu allen verfügbaren Beoachtungsdaten, genau so gut wie die heute standardmäßige LambdaCDM Kosmologie.


    In seinem zweiten Beitrag zieht Maeder vor allem die skaleninvariant formulierte Geodätengleichung heran und wendet sie auf zwei Phänomene an, die am Anfang der Dunkle-Materie-Hypothese standen, nämlich das Bewegungsverhalten einzelner Galaxien in großen Galaxienhaufen und die Rotationsgeschwindigkeit der Außenbereiche großer Spiralgalaxien. Seine Rechnungen sollen zeigen, daß man über die strahlende Materie hinaus keine weitere Masse annehmen muß, um diese beiden Phänomene zu erklären, wenn man die skaleninvarianten Bewegungsgleichungen zugrunde legt. Im skaleninvarianten Kosmosmodell braucht man also keine dunkle Materie anzusetzen, um die Dynamik der Galaxienhaufen und der galaktischen Scheiben zu verstehen. Sie folgt allein aus der Masse der sichtbaren Materie auf der Basis der reformulierten relativistischen Bewegungsgesetze.


    Was ist nun davon zu halten? Ich gehe mal davon aus, daß Maeders Beiträge handwerklich korrekt sind, denn das sollte der Peer Review beim Astrophysical Journal wohl sicherstellen. Die skaleninvariante Kosmologie ist erklärungskräftiger, weil sie die Einsteintheorie als einen Sonderfall enthält, und weil sie keine zusätzliche Dunkle-Energie-Hypothese und (zumindest in den beiden oben genannten Fällen) keine Dunkle-Materie-Hypothese benötigt, um die Beobachtungen zu erklären. Andererseits: Daß der leere Raum skaleninvariant ist, ist natürlich nur eine Hypothese. Vielleicht liebt die Natur die Symmetrie ja doch nicht so sehr, daß sie auf der grundlegenden Ebene skalensymmetrisch wäre. Vielleicht hatte Hermann Weyl also Unrecht und es gibt wirklich absolute, konstante Größen in der Natur. Immerhin meint Maeder aber, daß sich die theoretischen Vorhersagen des skaleninvarianten Kosmosmodells und des LambdaCDM-Modells in mancher Hinsicht doch so weit unterscheiden, daß sich durch zukünftige Präzisionsbeobachtungen eine Entscheidung treffen lassen könnte.


    Falls jemand mal endlich einen direkten Nachweis der dunklen Materie führen würde, spräche das natürlich gegen Maeder. Aber bisher wurden ja wohl lediglich Negativergebnisse geliefert, d.h. trotz großen Aufwandes hat man nichts gefunden und der Erkenntnisfortschritt besteht nur darin, daß man immer mehr darüber weiß, wo man nicht mehr suchen muß.


    P.S.
    Die Skaleninvarianz der Natur im Quantenbereich läßt sich möglicherweise retten, wenn man die Eichtheorien und das Prinzip der spontanen Symmetriebrechung heranzieht. Die Masse des Higgs-Bosons repräsentiert eben den Zustand einer bereits gebrochenen Symmetrie. Das zugrunde liegende Feld weist aber mehr Symmetrien auf als der gebrochene Zustand. Zu diesem Mehr gehört auch die Skalensymmetrie, weil die Masse des Higgs-Bosons als Konstante, die die Skalensymmetrie zerstört, eben erst durch die Brechung der umfassenderen Symmetrie entsteht. Nun hat die Skalenfunktion in den Gleichungen der skaleninvarianten Gravitationstheorie eine ganz ähnliche Struktur, wie das Higgsfeld in der Quantentheorie. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, daß sich die Gravitationskonstante analog als Effekt einer Symmetriebrechung verstehen läßt, der ein skalensymmetrisches Feld zugrunde liegt. Hermann Weyl würde triumphieren, aber Maeder will seine Überlegungen nicht mit der Frage nach dem Zusammenhang von Quantentheorie und Gravitationstheorie belasten, sondern konzentriert sich allein auf den klassischen Bereich am langen Ende der Wirklichkeit.


    Viele Grüße
    Johannes