Beiträge von Atlas im Thema „Älter oder kleiner ?“

    Hallo Enduro, Nico und alle anderen,


    Hier eine (leider zu) ausführliche Darlegung meiner Bedenken gegen die DM Hypothese.


    Die Erfahrungswissenschaften erzielen ihren Erkenntnisgewinn durch zwei methodische Schritte: Erstens, Formulierung von Hypothesen aufgrund von Beobachtung. Zweitens, Überprüfung dieser Hypothesen durch weitere Beobachtung. Grundsätzlich müssen Hypothesen empirisch überprüfbar sein, sonst haben sie in der Physik als Erfahrungswissenschaft nichts zu suchen. Beispielsweise kann man einen Gegenstand vom schiefen Turm von Pisa fallen lassen und das Verhältnis von Fallstrecke und Fallzeit durch Messung bestimmen. Auf dieser Basis kann man eine Hypothese über das Verhältnis dieser Größen bei beschleunigten Bewegungen aufstellen (erster Schritt). Nun bedarf diese Hypothese der empirischen Überprüfung (weitere Gegenstände, andere Türme), wobei die neuen Experimente vom ersten natürlich unabhängig sein müssen (zweiter Schritt). Bestätigt sich die Anfangshypothese vielmals, so handelt es sich um eine bewährte Hypothese. Etwas unscharf sprechen wir von einem Naturgesetz. Verifikation ist hier natürlich nicht möglich, weil wir dazu eine potentiell unendliche Zahl von Fällen überprüfen müßten. Allerdings ist Falsifikation der Hypothese möglich, nämlich durch ein einziges echtes Gegenbeispiel. Der Inhalt einer solchen Hypothese ist die gesetzmäßige Verknüpfung zweier Größen, hier: Weg und Zeit. Es handelt sich also um eine Gesetzeshypothese.


    Es gibt aber noch eine andere Art von Hypothesen, nämlich solche, in denen die Existenz einer Entität behauptet wird. Die DM Hypothese ist eine solche Existenzhypothese. Hier wird behauptet: Es gibt eine Entität x mit den Eigenschaften yz. Für physikalische Existenzhypothesen gilt zunächst das Gleiche wie für Gesetzeshypothesen. Sie werden im Ausgang von einer Beobachtung formuliert (erster Schritt), und über ihre Wahrheit/Falschheit muß man durch weitere, unabhängige Beobachtungen entscheiden können (zweiter Schritt). Allerdings gibt es einen Unterschied in der Überprüfungsweise: Weil eine Gesetzeshypothese eine Aussage über alle möglichen Fälle von beispielsweise beschleunigter Bewegung macht, ist keine Verifikation möglich, sondern nur Falsifikation. Dagegen beinhaltet eine Existenzhypothese keine All-Aussage, sondern eine Aussage über eine einzelne Wirklichkeit, nämlich daß es sie gibt. Deshalb ist hier Verifikation möglich und auch gefordert. Eine Existenzhypothese kann dann als bestätigt gelten, wenn sie verifiziert ist. Verifikation geschieht dadurch, daß über die Ausgangsbeobachtung hinaus und auf anderem Weg ein direkter Nachweis für die Existenz der postulierten Wirklichkeit erbracht wird.


    Für die Hypothese von der Existenz von DM bedeutet das: Man muß über die Beobachtung der Galaxienhaufen hinaus und unabhängig davon einen direkten Nachweis ihrer Realität erbringen. Das größte Problem sehe ich in Folgendem: Die DM Hypothese („es gibt eine Art von Materie, die nur gravitative Eigenschaften hat“) ist von vornherein so zugeschnitten, daß ein solcher unabhängiger, direkter Nachweis faktisch ausgeschlossen ist. Die DM Hypothese ist nicht nur bisher nicht verifiziert, sondern sie ist gar nicht verifizierbar. Wir haben gar keine Möglichkeit, empirisch über Wahrheit/Falschheit zu entscheiden.


    Aber vielleicht sollten wir nicht so streng sein. Senken wir unsere Rationalitätsstandards lieber ab und verzichten wir auf den direkten Nachweis. Welche Möglichkeiten zur Beurteilung der DM Hypothese bleiben uns dann? Hier sind zwei Bedingungen zu nennen: 1) Wir brauchen eine gewisse Anfangswahrscheinlichkeit für die Existenz dieser Wirklichkeit. 2) Die Anfangswahrscheinlichkeit läßt sich erhöhen, wenn wir weitere Phänomene aufweisen können, die sich dann erklären ließen, wenn unsere Existenzhypothese richtig wäre.


    Zu 1) Die Höhe der Anfangswahrscheinlichkeit hängt wiederum von zwei Faktoren ab. Erstens muß sich eine konsistente Beschreibung der postulierten Wirklichkeit geben lassen. Wenn die DM als „geheimnisvoll“ charakterisiert wird, oder wenn es heißt, daß niemand etwas darüber weiß, oder daß einige Punkte noch unklar sind, dann bedeutet das wohl, daß wir keine konsistente Beschreibung der DM besitzen. Wir wissen nicht einmal, was das sein soll. Der Begriff der DM ist beliebig. Zweitens muß sich die behauptete Wirklichkeit einfügen in das, was wir sonst über die Welt wissen. Das ist bei der DM aber gar nicht der Fall, da es sich bei ihr um eine Form von Materie handeln soll, die sich von der uns bekannten Materie drastisch unterscheidet. Die Anfangswahrscheinlichkeit der DM Hypothese ist somit sehr niedrig.


    Zu 2) Die Wahrscheinlichkeit der DM Hypothese läßt sich dann erhöhen, wenn wir über die Ausgangsbeobachtung des gravitativen Zusammenhalts der Galaxienhaufen hinaus weitere Arten von Phänomenen finden, die sich durch DM erklären ließen. Die Rotationseigenschaften der Spiralgalaxien scheinen ein solches Phänomen darzustellen. Hier ergäbe sich in der Tat eine Erhöhung der Anfangswahrscheinlichkeit. Allerdings wird man auch auf diesem Weg niemals zu einer Verifikation der DM Hypothese gelangen können, denn da ein direkter Nachweis ausgeschlossen ist, sind immer auch andere Erklärungen möglich.


    Wie verhält es sich mit Alternativerklärungen? Die Fachleute sagen uns, daß es hier mathematische Probleme gebe. Als Laie weiß ich natürlich nicht, worin genau sie bestehen. Aber ist die DM Hypothese hier wirklich im Vorteil? Ich glaube nicht, denn Probleme treten hier nur deshalb nicht auf, weil wir in unseren Berechnungen die Menge und die Verteilung der DM frei setzen können, und wir setzen sie dann eben so, daß die Galaxienhaufen nicht auseinanderfliegen. Aber entsprechen diese Setzungen der Wirklichkeit? Das wissen wir nicht, und der DM Hypothese zufolge ist es auch unmöglich das herauszufinden, weil die DM so definiert ist, daß wir unabhängig von ihren gravitativen Eigenschaften gar keine Informationen über sie haben können. Die These, daß die Galaxienhaufen und die Spiralgalaxien durch DM zusammen gehalten würden, ist empirisch nicht kontrollierbar.


    Vielleicht kann man die DM Hypothese vergleichen mit der Hypothese, es gebe einen großen Planeten jenseits des Uranus, wie sie seit den 1820er Jahren aufgestellt wurde. Man hatte durch Beobachtung Anomalien in der Uranusbahn festgestellt und darauf aufbauend eine Existenzhypothese aufgestellt: Es gibt einen großen Planeten jenseits des Uranus, der durch seine Gravitationswirkung die Anomalien der Uranusbahn bewirkt. Zur Überprüfung dieser Hypothese hat man zunächst errechnet, wo dieser Planet sich befinden müßte und wie groß er im Fernrohr erscheinen würde. 1846 hat man ihn tatsächlich teleskopisch entdeckt – die Existenzhypothese war verifiziert.


    Stellen wir uns als Gedankenexperiment einmal vor, man hätte an der vorhergesagten Stelle im Teleskop einfach nichts gefunden, in keiner Wellenlänge, bis heute nicht. Die Neptunhypothese kann nicht verifiziert werden. Und stellen wir uns weiter vor, daß nun eine Theorie entwickelt würde, die besagt: Daß die Verifikation gescheitert sei, liege nicht danach, daß der Neptun nicht existiere. Er bestehe nämlich aus unsichtbarer Materie, von der wir aber weiter keinen Begriff hätten, weil es sie sonst im Universum nicht gebe. Deshalb könne der Neptun grundsätzlich nicht direkt nachgewiesen werden. Würden wir die Hypothese vom unsichtbaren Planeten akzeptieren?


    Also meine Bedenken in Kürze zusammengefaßt:
    1) Das Verifizierbarkeitsproblem: Das Problem besteht nicht darin, daß die Existenz von DM bisher nur postuliert, aber noch nicht verifiziert worden ist. Das könnte ja noch kommen. Vielmehr liegt das Problem m.E. darin, daß gar nicht zu sehen ist, wie die DM Hypothese überhaupt verifiziert werden könnte.


    2) Das Beliebigkeitsproblem: Wir haben keinen konsistenten Begriff von DM. Sie ist angeblich ganz anders als die Materie, die wir sonst kennen. Über ihre Eigenschaften wissen wir nichts, außer daß sie gravitiert.


    3) Das Überprüfbarkeitsproblem: Unsere Berechnungen zur DM sind empirisch nicht überprüfbar, und zwar - der Theorie selbst zufolge - grundsätzlich nicht.


    Marcus hat oben die Vermutung geäußert, daß manche Zeitgenossen der DM Hypothese immer noch skeptisch gegenüber stehen, lasse sich nur psychologisch erklären. Ich frage mich dagegen umgekehrt: Brauchen wir nicht eine psychologische Erklärung dafür, daß so viele Zeitgenossen eine derart spekulative Theorie für glaubwürdig halten halten?


    Viele Grüße
    Johannes


    P.S. Ich bitte um Entschuldigung für die Länge der „Abhandlung“. Das liegt nur daran, daß das Wetter schon wieder seit Monaten keine Beobachtung zuläßt.

    Hallo Marcus,


    ich gestehe, daß ich (als physikalischer Laie) ebenfalls Schwierigkeiten damit habe, wenn zur Erklärung der beobachteten Effekte DM und DE angesetzt werden. Meine Vorbehalte sind primär wissenschaftstheoretischer und sekundär psychologischer Art.

    In der Wissenschaftstheorie macht man sich gemeinhin das Sparsamkeitsprinzip zu eigen, auch bekannt als "Ockhams Rasiermesser": entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem - deutsch sinngemäß: man soll nur dann die Existenz neuer Entitäten postulieren, wenn dies zur Erklärung der Phänomene unbedingt erforderlich ist. Das Problem solcher Postulate liegt nämlich darin, daß der Willkür hier keine Grenzen gesetzt sind. Bei der DM scheint mir das besonders deutlich. Wir behaupten, daß es da etwas gebe, und schreiben diesem etwas Eigenschaften zu, die verglichen mit dem, was wir sonst über die Natur wissen, seltsam und geradezu grotesk sind (keine Absorption elektromagnetischer Strahlung, keine Aussendung solcher Strahlung, keine magnetischen Eigenschaften, keine Temperatur (?), nur Gravitation). Ist die DM Hypothese letztlich nicht sogar der Ätherhypothese vergleichbar, die man vor Einstein aufgestellt hat?

    Im Blick auf DM wünsche ich mir zwei Dinge: Erstens, daß jemand einen Existenzbeweis für diese Art von Materie führt, der unabhängig von unserem Postulat wäre - daß also ein Satellit mal ein paar Atome davon (ist DM eigentlich atomar strukturiert?) aus dem Weltraum mitbringt, oder daß wir es sogar hier auf der Erde finden oder wenigstens in Genf synthetisieren können. Zweitens: Daß jemand unabhängig von unserem Postulat die Verteilung der DM in den Außenbezirken unserer Galaxis oder in den Halos der Galaxienhaufen mißt. Erst wenn das beides vorliegt, können wir herausfinden, ob die Theorie der DM richtig ist.


    Wenn ich als Laie zur Rechenarbeit der Physiker noch etwas sagen darf: Solange die Parameter und ihre Werte in den Gleichungen frei wählbar sind - und das sind sie wohl, da wir bisher nicht auf unabhängige Weise festgestellt haben, daß es überhaupt DM gibt und wieviel sich wo befindet -, solange liefern die Rechnungen bloß Modelle. Die Modelle besagen: Falls die beobachteten Phänomene durch DM verursacht werden, dann müßte die DM, diese und jene Eigenschaften angenommen, so und so verteilt sein. Ob diese Rechnungen die Wirklichkeit wiedergeben, bleibt aber völlig offen. Trotz der anschaulichen Bilder, die man in SuW und sonstwo als Resultate von Computersimulationen gezeigt bekommt: Diese Berechnungen liefern keine Argumente für Existenz und Beschaffenheit der DM.


    Ich warte also gespannt darauf, daß die beiden Nachweise im Blick auf DM geführt werden, oder daß plausible Alternativlösungen vorgeschlagen werden. Vielleicht bedürfen ja die Einsteinschen Gravitationsgesetze einer gewissen Nachjustierung, sofern es um sehr große Entfernungen geht?


    Mein Vorbehalt gegenüber der DE ist in der Tat eher psychologischer Art. Der Kosmos ist zunächst inflationär expandiert, dann ist die Expansionsgeschwindigkeit plötzlich stark abgefallen, aber seit wenigen Milliarden Jahren nimmt sie wieder zu? Sollte die Natur wirklich solche Bocksprünge machen? Das erscheint mir intuitiv unplausibel - und da steckt bei mir wohl die Psychologie drin. Ich halte es einfach für einleuchtender, daß die Naturprozesse gleichförmig verlaufen.


    An der Urknalltheorie finde ich folgendes bemerkenswert: Während die Philosophie mit einem zeitlich anfangslosen Weltall wohl keine Schwierigkeiten hätte, fordern gerade die Physiker einen Anfang der Welt vor knapp 14 Mrd. Jahren. Zudem fordern die Physiker einen solchen Anfang, der als "Singularität" physikalisch überhaupt nicht beschreibbar ist. Es scheint mir interessant, daß die gegenwärtige Physik so sehr auf ihre eigene Grenze hinweist.


    Stehen wir vielleicht wieder einmal vor einer Grundlagenrevision der Physik, so wie vor gut 100 Jahren?


    Viele Grüße
    Johannes