Etwas Theorie - terrestrische Teleskope, Vergrößerung und Sehwinkel

  • Hi,

    ich befasse mich derzeit etwas mit terrestrischen Fernrohren, also weniger Astronomie, mehr Theorie und Formenl und hoffe, dass hier genug Kompetenz da ist, um meine kleinen Denkblockaden zu beseitigen, wenn jemand Lust darauf hat.

    Ich beziehe mich auf diesen Wikipedia-Eintrag: https://de.wikipedia.org/wiki/Vergrößerung_(Optik) und außerdem den gängigen Angaben auf Ferngläsern und Fernrohren wie 10x50 und 100m/1000m und manche Winkelangaben.


    Ich versuche, einige der Formeln nachzuvollziehen und in der Praxis wiederzufinden. Ich fange mal so an: Man kann ja messen, welchen Durchmesser der Bereich hat, der durch das Fernrohr betrachtet werden kann (z.B. 0.5m) und die Entfernung zum Bereich messen (5m), was hochgerechnet 100m/1000m ergibt, eine typische Angabe, die man so findet. Wenn ich einfache Trigonometrie anwende, ergibt es einen Sehwinkel von 5,7°. Wenn es mir jetzt gelingt, so gut es geht, den Sehwinkel des Bereichs zu ermitteln, wie er mir im Fernrohr erscheint, sagen wir, es sind 45°, dann kann man über


    V = tan(45°) / tan(5,7°)


    den Vergrößerungsfaktor errechnen, der hier 10 ergibt. Das ist dann die "10x" in der Bezeichnung "10x50".

    Das erste Problem, was ich hier habe ist diese Formel: Wenn ich mit einem Fernrohr rein fiktiv einen Abbild-Sehwinkel von genau 90° erziele, funktioniert die Formel nicht, da tan(90) nicht definiert ist, weil der cos(90) = 0 ist. Bei einem Abbild-Sehwinkel sehr sehr sehr nah bei 90 wird die Vergrößerung unsinnig groß, egal wie der original-Sehwinkel ist. Bei einem noch größern Abbild-Sehwinkel, wird der Vergrößerungsfaktor negativ. Irgendwie sinnlos. Aber ich glaube auch nicht, dass so eine offizielle Formel falsch ist. Wo ist also mein Denkfehler? Ich kann mir durchaus Abbild-Sehwinkel >= 90° vorstellen, ohne dass irrationale Effekte auftreten. Warum bildet das die Formel nicht ab? Gilt sie nur für sehr kleine Sehwinkel? Warum teilt man nicht einfach die Sehwinkel durcheinander, warum den Tangens?


    Ein zweites Problem ist etwas konkreter mit ein paar Fernrohren / -gläsern, die ich hier habe und miteinander vergleiche. Wenn ich den Angaben auf dem Fernglas (10x25) glauben darf, hat es ja eine 10-fache Vergrößerung. Ein anderes Teleskop, da behauptet 16x zu haben, bildet den gleichen Gegenstand aber subjektiv kleiner ab. Bedeutet das automatisch, dass es eine kleine Vergrößerung haben muss, ungeachtet der Sehwinkel, Bildausschnitte etc.? Wenn ich die nämlich ermittle und die Vergrößerung ausrechne, kommt 12x heraus. Vielleicht stimmt ja auch die 10x schon nicht, aber mit so vielen Ungewissheiten, kann ich mir schlecht eine Meinung bilden oder etwas dazulernen. Mein Excel-sheet falsch? Die Angaben falsch? Mühsam... :D


    Respekt, wer das hier komplett durchgelesen und verstanden hat, und meinen Dank für jede konstruktive Antwort ;)

  • Servus,


    für Ferngläser gilt gleiches wie für Teleskope. Sie bestehen aus Objektiv und Okular. Das Objektiv gibt Öffnung und Brennweite vor, das Okular bestimmt Vergrößerung und das sichtbare Feld. Es gibt Ferngläser, die mit der Angabe von z.B. 8x40 deutlich zwar gleiche Vergrößerung bringen, aber dank unterschiedlicher Okulare eben unterschiedlich große sichtbare Felder, typisch mit der Angabe von z.b. 100m/1000m.

    Warum bildet das die Formel nicht ab? Gilt sie nur für sehr kleine Sehwinkel?

    für große scheinbare Gesichtsfelder gilt diese nicht mehr.

    Ein anderes Teleskop, da behauptet 16x zu haben, bildet den gleichen Gegenstand aber subjektiv kleiner ab. Bedeutet das automatisch, dass es eine kleine Vergrößerung haben muss, ungeachtet der Sehwinkel, Bildausschnitte etc.?

    Das dürfte durchaus an dem sichtbaren Feld liegen


    Eine Seite, auf der du eine ganze Menge verschiedener Binos mit ihren Daten findest


    https://www.intercon-spacetec.…llen-fernglasdaten/leica/


    Gruß

    Stefan

  • Hi, und danke für eure Beteiligung.

    nemausa Deinen Einwand verstehe ich, wenn ich Trigonometrie auf Entfernung zum Objekt und Objektgröße anwende. Dann rechne ich mit dem halben Winkel, weil ich in dem Moment das Sichtfeld halbiere und einen 90° Winkel an der Objektmitte erhalte. Aber bei der Formel für die Vergrößerung sieht das anders aus. Rufe bitte mal meinen verlinkten Artikel auf. Hier geht es nur um den Vergrößerungsfaktor, der durch den genannten Quotienten der Sehwinkel errechnet wird und nicht der Hälfte der Sehwinkel.


    stefan-h Das mit den unterschiedlich großen Sichtfeldern verstehe ich. Aber wenn ich mich auf einen bestimmten Gegenstand konzentriere, linkes Auge Teleskop 1, rechts Auge Teleskop 2, ohne dass mir dabei schwindelig wird ;) dann muss der gleiche Gegenstand bei 12x größer wirken als bei 10x, richtig? Ganz egal, was oder wieviel ich drum herum noch sehe oder?

  • Hmmm, also ich bin mir nicht so sicher, ob diese Formel bei Wikipedia für deinen Anwendungsfall korrekt ist.

    Grundsätzlich gibt es ja 2 Möglichkeiten die Vergrößerung zu berechnen:


    1. Reine Winkelberechnung


    Bsp: 60° Okulargesichtsfeld und 6° wahrer Blickwinkel am Himmel ergeben genau 10fache Vergrößerung.


    2. Berechnung über das Sehfeld auf 1000m


    Das Sehfeld auf 1000m entspricht 2x der Ankathete vom halben Blickwinkel.

    Genau deshalb muss hier mit dem Tangens und dem halben Winkel gerechnet werden.


    Hier den vollen Winkel zu nehmen ist falsch, denn dann kommt man ja schon bei 90° zu unsinnigen Werten, wie du bemerkt hast. Tatsächlich wird das Sehfeld auf 1000m aber erst bei 180° unendlich groß.


    Gruß

    Ronny

  • Aber bei der Formel für die Vergrößerung sieht das anders aus. Rufe bitte mal meinen verlinkten Artikel auf. Hier geht es nur um den Vergrößerungsfaktor, der durch den genannten Quotienten der Sehwinkel errechnet wird und nicht der Hälfte der Sehwinkel.

    nicht alles was in Wiki steht ist immer richtig.

    Korrekt ist nur die Formel die Ronny schon gepostet hat.

    V = tan(45°/2) / tan(5,7°/2)

    Die in Wiki ist falsch.

    Das kann man schon an der einfachen Tatsache erkennen das bei Okularen ein scheinbares Gesichtsfeld (SGF) von mehr als 90° möglich ist.

    Da im Dreieck alle Winkel zusammen immer 180° ergeben und der Tangens nur im rechtwinkligen Dreieck gilt kann es also keinen weiteren Winkel mit 90° oder gar mehr geben.

    Es gibt aber auch Okulare mit einem SGF von 100° und sogar mit 110° SGF zu kaufen.


    Bei einem Abbild-Sehwinkel sehr sehr sehr nah bei 90 wird die Vergrößerung unsinnig groß, egal wie der original-Sehwinkel ist. Bei einem noch größern Abbild-Sehwinkel, wird der Vergrößerungsfaktor negativ. Irgendwie sinnlos. Aber ich glaube auch nicht, dass so eine offizielle Formel falsch ist. Wo ist also mein Denkfehler? Ich kann mir durchaus Abbild-Sehwinkel >= 90° vorstellen, ohne dass irrationale Effekte auftreten. Warum bildet das die Formel nicht ab?

    Weil die Formel in Wiki falsch ist.


    Warum teilt man nicht einfach die Sehwinkel durcheinander, warum den Tangens?

    Es gibt 2 verschiedene Arten der Abbildung.

    Geradlinig (rektilinear) und winkeltreu.

    Den Tangens benötigt man für die geradlinige Abbildung.

    Bei winkeltreuer Abbildung teilt man einfach die Winkel also SGF /WGF (scheinbares Gesichtsfeld/ wahres Gesichtsfeld).


    Beispiel

    Okular

    25mm Brennweite und 28mm Feldblende


    SGF für geradlinige Abbildung

    SGS =2 arctan [(FB/2)/f]

    SGS =2 arctan [(28/2)/25] = 58,5°


    SGF für winkeltreue Abbildung, hier muss über den Radiant gerechnet werden.

    SGF = (FB/f) 180°/ pi

    SGF = (28/25) 180°/3,14 = 64,2°


    Das wahre GF sei 6,42°

    Dann erhalten wir für die geradlinige Abbildung.

    V = tan (58,5°/2) / tan(6,42°/2)

    V = 9,98


    Für die winkeltreue Abbildung

    V= SGF/WGF

    V = 64,2°/ 6,42°

    V = 10


    Die kleine Diskrepanz von 0,02 zur geradlinigen Abbildung ist der Rundung geschuldet.


    Das mit den unterschiedlich großen Sichtfeldern verstehe ich. Aber wenn ich mich auf einen bestimmten Gegenstand konzentriere, linkes Auge Teleskop 1, rechts Auge Teleskop 2, ohne dass mir dabei schwindelig wird ;) dann muss der gleiche Gegenstand bei 12x größer wirken als bei 10x, richtig? Ganz egal, was oder wieviel ich drum herum noch sehe oder?

    Wie groß ein Gegenstand subjektiv wirkt hängt aber nun mal auch vom SGF des Okulares ab. Viel drum rum bedeutet das der Gegenstand subjektiv als kleiner empfunden wird als wenn wenig drum rum ist. Obwohl die tatsächliche Größe in beiden Fällen identisch ist.

    Das ist also eine optische Täuschung.

    Sehr schön sieht man das auch mit bloßem Auge am Mond.

    Steht er am Horizont wird er subjektiv als wesentlich größer empfunden als wenn er hoch am Himmel steht. Misst man nach kommt in beiden Fällen aber exakt der gleiche Winkel raus.

    Hier hat also der Horizont Einfluss auf unsere subjektive Größenwahrnehmung.


    Grüße Gerd

  • Hallo,

    bei Billigferngläsern ist die Vergrößerungsangabe häufig nach oben hin geschönt, bzw. aus werbungstaktischen Gründen viel höher angegeben, als sie tatsächlich ist.

    Ich hatte mal auf einem Flohmarkt ein 20x60 Glas in den Händen und wunderte mich über das zitterarme Bild.

    Geschätzt hatte das Glas tatsächlich nur ungefähr 8 fache Vergrößerung.

    Ein Objekt muss auch wirklich größer zu sehen sein bei höherer Vergrößerung unabhängig vom umliegenden Sehfeld.

    Grade wenn du den direkten Vergleich hast, liegt der Verdacht nahe, daß da was faul ist.

    Gruß Armin

  • Hier der Strahlengang eines Fernglases oder Teleskops.



    und hier die zwei Winkel, welche die Vergrößerung ergeben. Denn Vergrößerung wird definiert als Verhältnis dieser beiden Winkel.



    Der linke Winkel ist der, unter der zwei Sterne oder die Größe eines Objekts ohne Teleskop zu sehen ist. Der rechte Winkel, wie er im Auge mit Teleskop erscheint.


    Der Rest ist Mittelstufen-Mathematik: Strahlensatz, ähnliche Dreiecke und Verhältnisrechnung, wenn man das Verhältnis der Winkel für "kleine Winkel" dadurch vereinfacht, dass sin φ = φ ist. Dazu gibt man den Winkel in Radiant an mit 360° = 2π (Umfang des Einheitskreises). Heraus kommt dann, dass das Verhältnis der beiden Winkel gleich dem Brennweitenverhältnis von Okular und Objektiv entspricht.

    In der Realität gilt die Vergrößerung nur auf der optischen Achse selbst (also superkleine Winkel rund um die Bildmitte) und weniger am Bildrand, denn viele Geräte zeigen am Bildrand eine kleinere Vergrößerung. Umgangssprachlich spricht man von Bildverzeichnung. Und die nimmt man für die meisten Einsatzzwecke zugunsten eines größeren Blickfeldes/Sehfeldes gerne in Kauf.


    PS:
    Gemalt hatte ich die Bilder mal vor längerer Zeit mit dem Mathe-Grafik-Tool von https://www.geogebra.org. Und dabei war ich dann zu faul, Linienlängen zu begrenzen, so dass die eine oder andere Linie sich bis zum Zeichenrand verlängert. Es gelten die für "dünne Linsen" bekannten Regeln zur Konstruktion der Linsenabbildungen, wie man es in der Schule auch lernt. Damit könnte man selbst das scheinbare Gesichtsfeld eines (einfachen) Okulars erklären, indem man die Feldblende des Okulars im Bild auf der Fokusebene einzeichnet und zum Dreieck auf die in den Bildern unbenannte Linie im Abstand der Okularbrennweite erweitert.


    Im nachfolgenden Bild habe ich für ein "einfaches" Okular die Feldblende und das scheinbare Gesichtsfeld (sGF) eingezeichnet.



    Auch hier kann man zeigen, dass das wahre Gesichtsfeld sich aus sGF geteilt durch die Vergrößerung ergibt. Grafisch hilft einem dabei die Überlegung, die ich auf nachfolgender Skizze aufzeigen möchte.



    Um den gesamten Himmel 360° zu sehen, dreht man das Teleskop einmal im Kreis und zwar mit dem Objektiv in der Kreismitte. Das Abbild vom Objektiv landet dann auf einem Kreis, dessen Radius die Objektivbrennweite ist. Auf der Kreislinie kann man jeweils nur sehen, was die Feldblende gerade durchlässt. Da diese bezogen auf den Kreis sehr klein ist, kann man das Abbild innerhalb der Feldblende als eben und nicht gekrümmt vereinfachen. Es geht dann nur noch um die Frage: Wie oft passt die Feldblende auf den Kreisumfung.


    Das Schöne ist, dass man so ohne Sinus/Tangens, allein über Verhältniszahlen, das ausrechnen kann.

  • Wow, viel Input und keine Emails darüber X/ Sorry für meine Abwesenheit, und danke für alle Erklärungen!


    Gerd-2 : Ok, wenn die Formel in Wikipedia falsch ist, und die Vergrößerung erst gegen 180° irrsinnig wird, macht das absolut Sinn, dann ist meine Welt wieder in Ordnung, das verstehe ich ;) Man kann also in der Praxis den Quotienten der Blickwinkel (virtuell / real) als Vergrößerungsfaktor annehmen.

    Das mit der Optischen Täuschung ist mir bewusst, weshalb ich mir beide Fernrohe gleichzeitig vors Gesicht gehalten habe :) Ich konnte den gleichen Gegenstand vom linken Auge/Teleskop und rechten Auge/Teleskop fast perfekt übereinanderlegen, egal, wieviel drum herum noch zu sehen war. Das ist doch dann derselbe Vergrößerungsfaktor bei ggf. unterschiedlichem Sehfeld oder?


    nemausa : Du meinst sicher die Gegenkathete, richtig? Sehfeld ist 2x Gegenkathete des halben Blickwinkels. Ansonsten versteh ich, was du sagst. Jetzt, wo wir festhalten können, dass Wikipedia an der Stelle einen Fehler hat...


    AS-Fan Ja, schrecklich oder? Wie in so vielen anderen technischen Bereichen findet da ein gegenseitiges Überbieten der Spezifikationen statt, und oft schlicht aber dreist gelogen. Einfach jämmerlich, dabei kann Technik so schön einfach und logisch sein.


    Kalle66 Mir ging es hier um terrestrische Beobachtungen. Zu den jeweiligen Brennweiten der Linsen in den fertigen Fernrohren hatte ich jetzt gar keinen Bezug und auch keine Daten. Der Vergrößerungsfaktor anhand von Brennweiten ist wieder ein leicht anderes Thema als wenn ich die Winkel und (messbare) Entfernungen betrachte.

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