Die ersten Parallaxen unter die Lupe genommen

  • <b>1838 gewann Friedrich Wilhelm Bessel das Wettrennen um die Messung der ersten Entfernung zu einem anderen Stern mit Hilfe der trigonometrischen Parallaxe - und legte damit die erste Entfernungsskala des Universums fest. Nun haben Mark Reid und Karl Menten, die sich mit Parallaxenmessungen bei Radiowellenlängen beschäftigen, Bessels Originalveröffentlichungen über "seinen" Stern 61 Cygni, die seinerzeit in der Fachzeitschrift „Astronomischen Nachrichten“ veröffentlicht wurden, wieder aufgegriffen. Obwohl sie im Allgemeinen die Ergebnisse reproduzieren konnten, die Bessel und zwei anderen Astronomen des 19. Jahrhunderts, Friedrich Georg Wilhelm von Struve und Thomas Henderson, erzielt hatten, fanden sie heraus, warum einige dieser frühen Ergebnisse statistisch gesehen nicht mit modernen Messungen übereinstimmen. Zum Andenken an Bessel beschlossen Reid und Menten, ihre Ergebnisse ebenfalls in den Astronomischen Nachrichten zu veröffentlichen. Im Jahre 1821 gegründet, war dies eine der ersten astronomischen Zeitschriften der Welt und sie bleibt die älteste, die noch immer erscheint.</b>


    Bestimmungen der Entfernung zu astronomischen Objekten sind von grundlegender Bedeutung für die gesamte Astronomie und für die Einordnung unseres Platzes im Universum. Die alten Griechen stellten die unbeweglichen "Fixsterne" in weit größere Ferne als die Himmelskugeln, auf denen die Planeten ihrer Bewegungen vollzogen. Die Frage "Wie viel weiter?" entzog sich jedoch noch Jahrhunderte lang einer Antwort, nachdem Astronomen begonnen hatten, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Die Dinge spitzten sich Ende der 1830er Jahre zu, als sich drei Astronomen unabhängig voneinander auf jeweils einen Stern konzentrierten und dazu viele Nächte an ihrem Teleskop verbrachten, oft unter schwierigen Bedingungen. Es war Friedrich Wilhelm Bessel, der 1838 das Rennen gewann, indem er verkündete, dass die Entfernung zum Doppelsternsystem 61 Cygni im Sternbild Schwan 10,4 Lichtjahre beträgt. Dies bewies, dass Sterne nicht nur geringfügig weiter von uns entfernt sind als die Planeten im Sonnensystem, sondern mehr als eine Million Mal weiter. Das war ein wahrhaft transformatives Ergebnis, das den Maßstab des Universums, wie es im 19. Jahrhundert bekannt war, völlig veränderte.


    Bessels Messung basierte auf der Methode der trigonometrischen Parallaxe. Dies ist im Wesentlichen eine Triangulation, wie sie von Vermessungsingenieuren zur Bestimmung von Entfernungen im Land verwendet wird. Astronomen messen die scheinbare Position eines "nahen" Sterns gegenüber viel weiter entfernten Sternen über ein ganzes Jahr hinweg, wobei sie ihre Messungen an verschiedenen Punkten der Erdumlaufbahn um die Sonne durchführen.


    Bessel musste seine akribischen Messungen über fast 100 Nächte an seinem Teleskop durchführen. Heutzutage sind Astronomen sehr viel "effizienter". Die Gaia-Weltraummission misst genaue Entfernungen für Hunderte von Millionen von Sternen, mit großen Auswirkungen für die gesamte Astronomie. Wegen des interstellaren Staubes in den Spiralarmen unserer Milchstraße hat Gaia jedoch Schwierigkeiten, Sterne innerhalb der galaktischen Ebene beobachten, die weiter von der Sonne entfernt sind als etwa 10.000 Lichtjahre - das sind nur 20% der Größe der Milchstraße von mehr als 50.000 Lichtjahren. Daher wird selbst ein so fundamentales und umfangreiches Projekt wie Gaia nicht den grundlegenden Grundriss unserer Galaxie liefern können, von dem viele Aspekte noch lebhaft diskutiert werden. Es ist sogar noch ungewiss, wie viele Spiralarme es in unserer Milchstraße gibt.


    Um die Struktur und Größe der Milchstraße besser zu verstehen, initiierten Mark Reid vom Center for Astrophysics | Harvard-Smithsonian und Karl Menten vom Max-Planck-Institut für Radioastronomie (MPIfR) ein Projekt zur Bestimmung der Entfernungen zu Radioquellen, die in den Spiralarme der Milchstraße sitzen. Das dafür bestgeeignete Teleskop ist das Very Long Baseline Array, ein Netzwerk von 10 Radioteleskopen, das sich von Hawaii im äußersten Westen bis zu den Virgin Islands im Osten der USA erstreckt. Durch die Kombination der Signale aller 10 Teleskope, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt sind, erhält man Bilder, die zeigen, was man sehen könnte, wenn unsere Augen für Radiowellen empfindlich wären und einen Abstand von fast der Größe der Erde voneinander hätten.


    Dieses Projekt wird von einem internationalen Team durchgeführt, wobei Wissenschaftler des MPIfR wesentliche Beiträge leisten – MPIfR-Direktor Karl Menten pflegt seit mehr als 30 Jahren eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Mark Reid. Als zu Beginn des Projekts ein eingängiges Akronym diskutiert wurde, wählten sie den Namen „Bar and Spiral Structure Legacy Survey“, kurz BeSSeL. Natürlich hatten sie dabei den großen Astronomen und Mathematiker Friedrich Wilhelm Bessel, den Pionier der Messung von Sternparallaxen, im Sinn.


    Wie in jeder experimentellen oder beobachtenden Wissenschaft erlangen Messungen nur dann Bedeutung, wenn ihre Unsicherheiten zuverlässig bestimmt werden können. Dies ist auch das alltägliche Brot der Radio-Astrometrie und wird von den Astronomen des BeSSeL-Projekts besonders beachtet. Zu Bessels Zeiten hatten die Astronomen gelernt, auf Messfehler zu achten und sie bei der Ableitung von Ergebnissen aus ihren Daten zu berücksichtigen. Dazu gehörten oft mühsame Berechnungen, die ausschließlich mit Bleistift und Papier durchgeführt wurden. Natürlich war ein Wissenschaftler von Bessels Kaliber sehr wohl bemüht, alle Probleme zu analysieren, die seine Beobachtungen möglicherweise beeinflussen könnten. So erkannte er, dass Temperaturschwankungen in seinem Teleskop die empfindlichen Messungen in kritischer Weise beeinflussen könnten. Bessel hatte in seiner Sternwarte in Königsberg in Preußen (dem heutigen russischen Kaliningrad) ein hervorragendes Instrument, das von dem genialen Instrumentenbauer Joseph Fraunhofer stammte und das letzte war, das dieser gebaut hatte. Die Temperaturschwankungen hatten einen großen Einfluss auf die für eine Parallaxenmessung erforderlichen Beobachtungen. Sie müssen über ein ganzes Jahr verteilt sein, wobei einige im heißen Sommer, andere in kalten Winternächten gemacht werden.


    Mark Reid hatte damit begonnen, sich mit Bessels Originalarbeiten über 61 Cygni zu befassen. Er bemerkte einige kleine Ungereimtheiten in den Messungen. Um diese zu verstehen, begannen er und Karl Menten, sich tiefer in die Originalliteratur einzugraben. Bessels Veröffentlichungen erschienen im Original in Deutsch, in Astronomische Nachrichten, obwohl einige in Auszügen, ins Englische übersetzt, auch in den Monthly Notices of the Royal Astronomical Society herauskamen. Daher mussten die deutschen Originalfassungen analysiert werden, wobei sich die Tatsache als nützlich erwies, dass Mentens Muttersprache Deutsch ist.


    Reid und Menten nahmen auch die Ergebnisse von Bessels Konkurrenten bei der Ermittlung von Sternparallaxen unter die Lupe. Thomas Henderson, der in Kapstadt, Südafrika, arbeitete, hatte alpha Centauri ins Visier genommen, die Hauptkomponente des, wie wir heute wissen, unserer Sonne nächstgelegenen Sternsystems. Kurz nachdem Bessel sein Ergebnis bekannt gegeben hatte, veröffentlichte Henderson eine Entfernung zu diesem Stern.


    Der bedeutende Astronom Friedrich Georg Wilhelm von Struve vermaß alpha Lyrae (Wega). Die Literatursuche nach von Struves Daten erforderte einiges an Detektivarbeit. Ein detaillierter Bericht über seine Messungen wurde nur in lateinischer Sprache als Kapitel einer umfangreichen Monographie veröffentlicht. Der Bibliothekar des MPIfR verfolgte ein Exemplar bis zur Bayerischen Staatsbibliothek, die es in elektronischer Form zur Verfügung stellte. Es ist lange Zeit ein Rätsel gewesen, warum von Struve ein Jahr bevor Bessel sein Ergebnis für 61 Cygni mitteilte, eine vorläufige Entfernung zur Wega ankündigte, um sie später auf Grund weiterer Messungen auf den doppelten Wert zu revidieren. Es scheint, dass von Struve zunächst alle seine Messungen verwendet hat, aber am Ende das Vertrauen in einige davon verloren und diese verworfen hat. Hätte er dies nicht getan, hätte er wahrscheinlich mehr Anerkennung für sein Resultat erhalten.


    Reid und Menten können im Allgemeinen die von allen drei Astronomen erzielten Ergebnisse reproduzieren, stellten jedoch fest, dass von Struve und Henderson einige ihrer Messunsicherheiten zu klein ansetzten, was ihre Parallaxen etwas aussagekräftiger erscheinen ließ, als sie es tatsächlich waren. „Bessel über die Schulter zu schauen, war eine bemerkenswerte Erfahrung und hat Spaß gemacht“, sagt Mark Reid. „Die Arbeit von Bessel und seiner Kollegen sowohl in einem astronomischen als auch in einem historischen Kontext betrachten zu können, war wirklich faszinierend“, schließt Karl Menten.


    Weitere Infos auf den Seiten des MPIfR unter https://www.mpifr-bonn.mpg.de/pressemeldungen/2020/11

  • Schöner Beitrag Caro!
    Da Du noch nichts zu Bessels Instrument geschrieben hast, möchte ich hier noch etwas anfügen.


    1813 wurde unter der Leitung des Astronomen Friedrich Wilhelm Bessel die Königlich Preußische Sternwarte in Königsberg erbaut. Sie war Teil der bereits 1544 unter Albrecht v. Brandenburg-Ansbach gegründeten Albertina Universität. Die Instrumente der neuen Sternwarte stammen zunächst überwiegend von einer unter Graf Friedrich von Hahn (1742-1805) um 1793 bei Remplin in Mecklenburg errichteten und nur wenige Jahre betriebenen Turmsternwarte. Bessel stand auf der neuen Sternwarte nur ein altes Heliometer des englischen Instrumentenbauers Dollond zur Verfügung. Da er die Vorzüge der äußerst genauen Heliometer-Messmethode gegenüber der Messung mit einem Fadenmikrometer erkannt hatte, jedoch die ungenügende Lichtstärke seines Instruments bemängelte, informiert er sich etwa 1818 bei Fraunhofer über die im optischen Institut gefertigten Heliometer. Schließlich bestellte er 1824 bei Utzschneider ein Instrument. Mit einem Objektivdurchmesser von 70 Pariser Linien und einer Brennweite von 8 Fuß war Bessels Instrument fast doppelt so groß als alle bisher in der Münchener Werkstatt angefertigten Heliometer. Kurz darauf gelangen Fraunhofer drei nahezu identische Objektive von 6 Zoll Durchmesser. Alle konnten noch kurz vor seinem Tod von ihm geprüft und retuschiert werden. Die Herstellung der mechanischen Teile des Instruments verzögerte sich in den folgenden zwei Jahren durch die Umstrukturierung des Instituts nach Fraunhofers Tod. Bessels Zweifel an der Fertigstellung seines Heliometers nach den vereinbarten Plänen wurden immer lauter. Er befürchtete, dass Utzschneiders Werkstätte nach Fraunhofers Tod nicht mehr in der geforderten Qualität liefern könnte. Dieser reagiert in einem Brief vom August 1826 auf Bessels Bedenken und informiert ihn über den gegenwärtigen Fertigungszustand des Instruments, wonach der Objektivansatz mit der Mechanik, der Okularansatz und drei Objektive zur Auswahl fertig gestellt wurden. Im Februar 1827 gelang G. Merz gleich beim ersten Versuch die Teilung eines der drei Objektive. In Gruithuisens Analekten für Erd- und Himmels-Kunde lesen wir hierzu:


    <i>„Im von Utzschneider-Fraunhofer’schen optischen Institute in München ist ein für Hrn. Bessel nach Königsberg bestimmtes Heliometer fertig geworden und ist von der Hälfte Octobers an bis Ende deselben im laufenden Jahre für die Kenner ausgestellt gewesen. Die Oeffnung des in 2 Hälften getheilten Objectivs ist sechs Pariser-Zoll. Herr Merz (gebohren in Benedictbeyern, im optischen Institut gleichsam aufgewachsen, Fraunhofers geschiktester Schüler und seit vielen Jahren sein erster Arbeiter) spaltete die zwey Objectivgläser mit einem Diamant; und es gelang schon zum Erstenmale so gut, dass nur die Bruchflächen durften matt geschliffen werden.“</i>

    Im gleichen Jahr wurde auch die parallaktische Montierung und das Stativ des Heliometers unter der Leitung Joseph Mahlers (1795-1845) fertiggestellt. Er orientierte sich hierbei an dem 1824 aufgestellten Refraktor der Dorpater Sternwarte, änderte aber gegenüber diesem Instrument die Aufnahme des Gegengewichts auf der Deklinationsachse. Über die Nebenapparate des am 11. März 1829 ausgelieferten Heliometers findet sich ebenfalls bei Gruithuisen folgender Hinweis:


    <i>„Das Fernrohr hat 5 Oculare von 45 bis 290malige Vergrösserung mit verschiedenen Sonnengläser versehen. Auch ist dabey eine Lampenmikrometer Vorrichtung, ein Ocular mit Fäden ins Kreuz, ein anderes mit Netz in Rhomben und noch eins mit concentrischen Kreisen, beyde leztere auf Glas. Noch gehört dazu ein Kreismikrometer mit 2 concentrischen Ringen nach Fraunhofer. Die Oculare der Netz- und Kreismikrometer haben eine 66,92 und eine 165malige Vergrösserung. Die Aufstellung ist parallactisch, alles in jeder Lage wohl balancirt, und das Fernrohr geht mittelst einer Uhr mit den Gestirnen, wie beim Dorpater Instrument. Der Stundenkreis hat eine Eintheilung von 4” zu 4” in Zeit, der Declinationskreis von 10” zu 10” im Raume. Alles dieses ist erst nach des unvergesslichen Fraunhofers Tod gefertigt worden.“</i>


    Die Kosten für das Instrument betrugen laut Kaufvertrag zwischen Utzschneider und Bessel rund 9.000 Gulden. Die Endkontrolle führte C. A. Steinheil durch, bevor es für den Transport nach Königsberg verpackt wurde. Im Frühjahr 1829 begann man in Königsberg mit dem Bau der Heliometer-Kuppel auf dem nördlichen Instrumentensaal der Sternwarte. Am 11. März 1829 kam das Instrument in Königsberg an. Im Oktober des gleichen Jahres wurde es aufgestellt und in Betrieb genommen. Das Königsberger Heliometer konnte trotz anfänglicher Zweifel zur vollsten Zufriedenheit Bessels auch ohne Fraunhofers Aufsicht von Georg Merz (1793-1867) gebaut werden. Bessel gelang damit in den Jahren 1837/38 die erste exakte Winkelmessung einer Fixsternparalaxe. Nun war es erstmals möglich, die Entfernung eines nahen Fixsterns zu bestimmen.


    Gruß in die Runde,
    Jürgen

  • Schade, daß die Seite der Max Planck Gesellschaft keine tiefergehenden Informationen bietet.Wie hat Hr. Bessel das beispielsweise hinbekommen, eine Parralaxe zu detektieren, die deutlich unter dem Seeing liegt? Gab es da statistische Verfahren beispielsweise? Und wie bitte hat man mit dem Blick von heute inhaltlich die jeweiligen Abweichungen der Ergebnisse der drei Astronomen " beziffert"? Waren die mathematischen Modelle so unterschiedlich? Oder haben die drei die subjektiven Meßabweichungen jeweils anders bewertet? Gab es unterschiedliche Studiendesigns auch damals?

  • <blockquote id="quote"><font size="1" face="Verdana, Arial, Helvetica" id="quote">Zitat:<hr height="1" noshade id="quote">Wie hat Hr. Bessel das beispielsweise hinbekommen, eine Parralaxe zu detektieren, die deutlich unter dem Seeing liegt?<hr height="1" noshade id="quote"></blockquote id="quote"></font id="quote">


    Hallo Michael,


    die Messung einer Position kann mit deutlich hoeherer Aufloesung erfolgen als die Seeing- oder auch Beugungsgrenze. Der Durchmesser des Beugungsscheibchens definiert das Vermoegen, nah beianderliegende Strukturen zu trennen und damit das Aufloesungsvermoegen. Aber die Position des Scheibchens relativ zu anderen Scheibchen (dem Referenzsystem aus Hintergrundsternen) kann mit hoeherer Genauigkeit bestimmt werden.


    Heute wuerde man den Schwerpunkt der Punktbildfunktion dafuer benutzen. Damals, rein visuell, wurde die Position relativ zu den Referenzsternen mehrfach gemessen und dann gemittelt.

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